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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


führenden Geigenstimme hat und auf die Mitwirkung der eigentlichen Violinen verzichtet. Größere Instrumentalwerke verwandten Inhalts sind noch die beiden Septette für Streichinstrumente in B-dur und G-dur. Auch die unlängst veröffentlichte zweite Symphonie in D-dur tritt dem Stimmungskreise dieser frohbeglückten, freundlich milden, zuweilen übermüthig heiteren Compositionen nahe.

Zeitweilig hat er das Elegische und Weiche seiner Natur so vorwalten lassen, daß vielen seiner Verehrer das Bild des Componisten nur in der Gestalt eines zarten Jünglings in der Seele lebt. So zeigt ihn namentlich ein großer Theil seiner Lieder. „Wie bist Du meine Königin“ und „Die Mainacht“ sind vielleicht die bekanntesten Repräsentanten dieser Gattung Brahms'scher Gesänge, deren Empfindungsweise einst irgend Jemand mit dem Schlagwort „schön und schüchtern“ zu bezeichnen versuchte. Ein Silberglanz liegt über ihnen; sie scheinen unter einer Sonne gesungen, die immer wärmt und niemals brennt. In der neueren Liederliteratur haben sie wenig Verwandtes, vielleicht nur einige der kleinen Lieder von Robert Franz, beispielsweise dessen „Stille Sicherheit“. Man muß direct auf Beethoven's „Adelaide“ zurückgehen, um an den Quell zu kommen, aus dem diese Weisen flossen. Ein musikalischer Milchbruder des edlen Hölty erscheint Brahms in diesen so weitschauenden und doch so decenten Liedern mit der großen Sehnsucht, der großen Anlage zu Glück und Freude und dem kleinen Schleier von Melancholie. Auch quantitativ hat Brahms in seinen Liedern die Dichtungen Hölty's sehr bevorzugt. Dadurch, daß das tiefe, feine Gefühl, welches sich in ihnen ausspricht, doch gleich beim ersten Blick von der sonst gebräuchlichen Musiksentimentalität zu unterscheiden war, haben diese elegischen Lieder sehr auffallen und in der Zeit einen großen Eindruck hervorrufen müssen. Keineswegs aber ist mit ihnen das Wesen von Brahms auch nur als Liedersänger erschöpft.

Die ganze Scala menschlicher Empfindungen hat er durchgenommen und auch (in den neuesten Gesängen bei dem Goethe'schen Walpurgislied und der Herder'schen Edward-Ballade) die schauerlichen Saiten wieder sehr unbarmherzig gerührt. Hervortretend wird man namentlich seinen Humor finden und besonders eine ganz schelmische Spielart desselben, die Ernst und Spaß unbestimmt in einander fließen läßt. Die lamentirende Stelle in der „Botschaft“ von Daumer und die in dem Gedicht von Kopisch (op. 58,2), wo der Geliebte daran denkt, daß er nach Hause muß, sobald es zu regnen aufhört, sind sehr frappante Beispiele hierfür. Wenn die Damen unsern Brahms schon wegen seiner Stimmungen wie einen zweiten Heinrich Frauenlob verehren sollten, so hat er sich ihren Dank noch ganz besonders durch seine Schilderungen und Verherrlichungen liebender Mädchen verdient. Sollte einmal ein Musikgelehrter eine Abhandlung über „das Weib in der Tonkunst“ abfassen, so wird darin gewiß von Beethoven's „Leonore“ und Schumann's „Peri“ sehr viel die Rede sein müssen. Mögen dann aber auch ja nicht die beiden einzig lieben Kinder in den Brahms'schen Gesängen „Von ewiger Liebe“ und vom „Herrn von Falkenstein“ vergessen werden!

Von ihrem Gehalte abgesehen, bieten die Lieder von Brahms Denjenigen, welche sie studiren, noch einen großen formellen Nutzen, nämlich die beste Gelegenheit sich mit dem Stile des Componisten vertraut zu machen und eine Hauptschwierigkeit desselben unvermerkt zu überwinden. Wenn Musikfreunde vor manchen instrumentalen Sätzen des Componisten zurückschrecken, so liegt das weniger daran, daß seine Phantasie zuweilen sich in Gebiete begiebt, die von fern nur grau aussehen, und daß ihre Wege nur strapaziös und schwierig zu übersehen sind, als vielmehr an der Knappheit und Kürze des Ausdrucks, mit der er bedeutungsvolle Stellen erledigt: zwei sehr bekannte Uebergangsstellen im Requiem und im Schicksalsliede sind durch nichts weiter markirt als durch zwei oder drei Hornnoten; die freundlichen Wendungen im zweiten Theile der „Harzreise“ sind immer nur in wenige Tacte zusammengedrängt. Wer nicht in Brahms eingelebt ist, läuft deshalb Gefahr, wichtige Partien zu überhören. Feines und hingebendes Hören verlangt Johannes Brahms, aber man lernt dies auch an seinen Werken und am bequemsten an seinen Liedern, wo der Text vieles aufklärt und an die Hand giebt.

Obwohl Brahms Eigenthümlichkeiten des Stiles besitzt, welche beachtet sein wollen, obwohl manche seiner intimsten und schönsten Sätze für Hörer verloren gehen, die nur bei al fresco-Musik erzogen sind, und obwohl viele seiner Motive und Melodien sich an Menschen wenden, welche innere Musik besitzen und einem Componisten ernstlich nachgehen und nachsingen, so steht er doch weit über dem Verdacht eines „gelehrten“ Tonsetzers, mit welchem Titel ja der Volksmund in seiner Höflichkeit die ungenießbaren Producte scholastischer Seelen abzulehnen pflegt. Manche seiner heiteren und lebenslustigen Compositionen – nebenbei bemerkt, schreiben sich die Wiener an diesen ein Verdienst zu – sind in Räume gedrungen, wo sonst die Claviere fast ausschließlich mit „Klosterglocken“, „Papillons“, Potpourris und ähnlichen Aufgaben beschäftigt sind. So die vierhändigen Walzer. Am häufigsten gespielt werden wohl die „Ungarischen Tänze“ von Brahms. Von Brahms? Nein: Gesetzt von Brahms. So ist genau auf dem Titel zu lesen und damit ist eigentlich ein Mißverständniß ausgeschlossen, welches vor etlichen Monaten viel Staub aufgewirbelt hat. Die ungarischen Tänze hat Brahms nur bearbeitet und nur als Bearbeitungen veröffentlicht, obwohl sie in der That von ihm sehr wohl componirt sein könnten, namentlich von dem Brahms der frühesten Periode, der das Contrastirende liebte. Von den verschiedenen Nationalmusiken, welche in der neueren Zeit an die Stelle der ehemals internationalen und ungetheilten Tonkunst zu treten versuchen, ist die ungarische am frühesten als kunstfähig behandelt worden. Haydn und Schubert bedienten sich gern der unbändigen Rhythmen, die jenseits der Leitha zu Hause sind, wenn sie etwas recht Wild-Keckes mitzutheilen hatten. In der A-dur Symphonie klirren selbst bei Beethoven ungarische Sporen. Heute finden wir Namen deutscher Componisten auf den Titelblättern ganzer „Ungarischer Suiten“. Auch Brahms musicirt gelegentlich eine Strecke als lustiger Magyar. So im Schlußsatze seines G-moll Quartetts und noch neuerdings im Allegretto seiner zweiten Symphonie. Die Stile der Länder, der Meister und der Schulen stehen ihm überhaupt zu Gebote, wie er sie haben will, und in diesem Bewußtsein mag es ihn wohl an passendem Orte einmal gereizt haben, hier einen kleinen jubilus à la Händel zu versuchen, dort – wie in dem neuesten Violinconcert – eine Bach'sche Figur erklingen zu lassen. Ganz in derselben Weise hat Bach zuweilen den Geist des großen Buxtehude vor sich treten lassen; so versetzte sich Beethoven in die fromme Zeit, da noch die lydische Tonart gebräuchlich war. Namentlich die Weisen der Altdeutschen, der Eccard und Prätorius, hat Brahms oftmals und sehr wirksam erneuert in einstimmigen und mehrstimmigen Gesängen. Von den letzteren seien besonders die „Marienlieder“ namhaft gemacht, die zweite Nummer derselben „Mariä Kirchgang“ mit apartem Nachdruck. Sie hat an der Stelle, wo Maria in's Wasser tritt und die Glocken zu läuten anfangen, eine malerische Kraft, welche in der a capella-Literatur nicht überboten werden kann.

Es hätte sich wohl ereignen können, daß Brahms sein Leben als künstlerischer Klausner fortgesetzt und beschlossen hätte, unbekümmert um die große Welt, wie sie um ihn. Da erschien ein Zeitpunkt, an welchem er mit allem Glanze seiner Schätze an's Licht trat. Das war, als er sein „Deutsches Requiem“ schrieb.

Das Werk ist ein Gelegenheitsgedicht im Goethe'schen Sinne. Nach dem Tode der Mutter sang der Sohn dieses hohe Lied vom himmlischen Leben und irdischer Vergänglichkeit, welches seinen Namen unsterblich machen wird. Wenn die katholische Todtenmesse einem Gebete gleicht, einer Bitte zum Herrn, mit den armen Seelen der Entschlafenen am jüngsten Tage gnädig in's Gericht zu gehen, so ist das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms mehr eine Predigt, eine Mahnung an die Trauernden, den Tod als Hingang zur ewigen und wahren Heimath zu feiern. Die starre und seufzervolle Grabesmusik, die verzweifelten Ausbrüche der Todesangst, die bitteren und schneidenden Klagen über die Hinfälligkeit des Menschlichen – Alles das soll nur den Blick nach oben lenken, nach den ewigen Freuden am Throne Gottes, den die ekstatischen Lobgesänge der Seligen umschallen. Das „Requiem“ ist eine Art Doppelgemälde von dem Paradiese und einem andern Orte, den man nicht gerade Hölle nennen kann; denn der Tondichter schildert ihn mit unendlichem Mitleid und mit einem engelmilden Trostbemühen: nämlich unsere Erde, den großen Friedhof, und uns, die zum Tode bestimmten Menschen. Wir besitzen dadurch in dem „Requiem“ eines der allerchristlichsten und schönmenschlichsten Werke, welche die Kunst

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_223.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)