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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Wasser und waten, das Boot auf's Trockne ziehend, an's Land zu den dort haltenden Reitern. Die Unterhaltung währt nicht lange; da man sich beiderseits nicht durch die Sprache verständigen kann, so hilft die Pantomime. Die Leutchen sehen ein, daß wir Hülfe haben wollen, und wir erfahren, daß es die Insel Jesso ist, an der wir gestrandet sind, die nördlichste der vier großen japanischen Inseln. Unsere Freunde setzen ihre kleinen zottigen Pferde in eiligen Trab und verschwinden in dem wieder dichter werdenden Nebel. Da jede Aussicht auf eine sofortige Rettung des Schiffes uns benommen war, so wurden die Kesselfeuer gelöscht; das Pfeifen des ausströmenden Dampfes erschien uns wie das Todtenlied des braven Schiffchens.

Jeder sich erhebende stärkere Wind konnte uns in die größte Gefahr bringen; deshalb befahl der Capitain gegen Abend der Mannschaft, das Nöthigste zusammenzupacken und an's Land zu gehen. Eilends raffte nun Jeder sein Bestes zusammen, und bald gehen die beiden Boote zwischen Dampfer und Land hin und her und bringen Proviant, Kisten und Koffer in Sicherheit. Die Ueberwindung der Brandung gelingt; nur einmal wird ein Boot, in dem sich gerade ein Theil der wissenschaftlichen Instrumente befindet, von einer hohen Sturzwelle erfaßt und überworfen, wodurch natürlich die Sachen verloren gehen.

Bald ist dicht am Strande ein Zelt aus Segeln aufgeschlagen, ein mächtiges Feuer aus dem am Strande herumliegenden Treibholz angezündet, und der Schiffskoch, ein alter Gardeschütze aus Berlin, ist an einem genau nach dem preußischen Reglement angelegten Kochgraben eifrigst bemüht, den ermatteten und durchnäßten Leuten etwas warmes Essen zuzubereiten. Dann macht sich Jeder, so gut es geht, in dem weichen Sand unter dem Zelt ein Lager für die Nacht zurecht und erwartet den Schlaf.

Da aber war die Rechnung ohne – die Mosquitos gemacht, welche aus den nahen Wäldern und Sümpfen herbeigelockt waren. Eben ist man im Begriff einzuschlafen – da summt und singt es plötzlich am Ohr, und nun beginnt der oft beschriebene Kampf ohne Erbarmen drüben, ohne Hoffnung auf Sieg hüben. Bald tönt aus dieser, bald aus jener Ecke des Zeltes erst ein leiser Seufzer, dann ein tüchtiger Seemannsfluch, bis endlich bald der Eine, bald der Andere, wie von Furien verfolgt, zum Zelt hinaus und zum Feuer stürzt, in dessen qualmendem Rauch man zwar vor Mosquitos ziemlich sicher ist, aber Gefahr läuft zu ersticken. So giebt es denn keine Rettung weiter, als zur Pfeife oder Cigarre zu greifen und die ganze Nacht am Strande um das Feuer herumzulaufen. Nur wenige Hartfellige bringen es zu einem, wenn auch sehr unruhigen Schlaf; früh sind sie freilich so zerstochen und verschwollen, daß sie kaum aus den Augen sehen können.

Als der Tag anbrach, erschien einer unserer alten japanischen Bekannten, Jedem seine obligaten Bücklinge machend, indem er sich bis zur Erde verneigte; er bat den Capitain ihm zu Pferd nach einem neun Stunden entfernten Städtchen zu folgen, woselbst ein höherer japanischer Beamter residiren sollte. Der Capitain leistete dieser Aufforderung natürlich Folge, und wir benutzten die Zeit bis zu seiner nach zwei Tagen erfolgenden Rückkehr, unsere sehr ungemüthliche Lage etwas bequemer zu gestalten, indem Matratzen, Stühle, Decken, Proviant, ja sogar auch ein Tisch vom Schiff heruntergeholt wurden. Letzterer war bald mit üppigen Sträußen der schönsten Wald- und Wiesenblumen geschmückt. Kurz, es wurde Alles so gemüthlich wie möglich eingerichtet, und wenn nur die Legionen von Mücken bei Nacht und Stechfliegen bei Tag nicht gewesen wären, so hätte man es schon aushalten können.

Der Strand war weithin mit leeren Zuckertonnen und zerfallenen Seifenkisten bedeckt, deren halbzerflossener Inhalt einheimische Fischern, die gerade vorbeikamen, sehr verlockend erschien. So groß aber war die Ehrlichkeit dieser Leute, daß sie von diesem eigentlich herrenlosen Gut sich nicht eher etwas aneigneten, als bis sie den Einen oder Anderen von uns zu den betreffenden Stellen geführt und die natürlich gern ertheilte Erlaubniß erhalten hatten. An den europäischen Küsten würden die Strandbewohner nicht so große Umstände gemacht haben, und wieder einmal hatte Seume Recht mit seinem: „Wir Wilde sind doch bessere Menschen.“

Die Bewohner des Landes benutzen den Strand als Verkehrsweg, da es im Innern der Insel keine Straßen giebt, vielmehr dort alles fast noch unerforschte, ängstlich gemiedene Wildniß und Urwald ist; der Verkehr mit den Leuten gestaltete sich auf das Günstigste. Obwohl Alle schon häufiger mit Europäern zusammengekommen zu sein schienen, so betrachteten sie doch die am Strande herumliegenden Dinge mit der größten Aufmerksamkeit und ließen sich den Gebrauch dieses oder jenes Gegenstandes auseinandersetzen, ohne jedoch zu wagen, irgend etwas ohne specielle Erlaubniß zu berühren. Zuweilen erhielten wir auch den Besuch von höheren Beamten; es waren Abgesandte des oben erwähnten Gouverneurs in Nemoro, welche europäisch gekleidet waren und mehr oder weniger geläufig englisch sprachen. Sie untersuchten genau die Lage des Schiffes, beabachteten unser Thun und Treiben und ließen sich bereitwilligst mit Champagner und Cigarren tractiren. Was schadete es, wenn der Eine keinen Hut hatte und des Andern Hosen von etwas bedenklicher Kürze waren, auch der Rock nicht vom ersten Pariser Schneider gemacht zu sein schien; die Leutchen waren alle höflich und freundlich und versprachen jede mögliche Hülfe. Beim Abschied erhielt dann wohl Jeder sein tüchtiges Stück Schinken, das, sauber in Papier eingewickelt, sofort in einer Rocktasche verschwand; daneben wurde Jedem auch noch ein Stück Hutzucker zu Theil. Bezahlungen, die uns in der ersten Zeit angeboten wurden, lehnten wir natürlich ab.

So verging eine volle Woche; tagtäglich waren wir mit Rettungsversuchen beschäftigt, die aber stets mißlangen, und ein kleiner japanischer Dampfer, der uns zur Verfügung gestellt war, konnte auch nicht viel helfen. Nachdem unser braves Schiffchen allmählich durch den Wogengang fast ganz auf das Trockene geworfen war, wurde das Nöthigste zusammengepackt, und während der Capitain beim Schiff zur Bewachung blieb, war bald die übrige Mannschaft mit dem oben erwähnten japanischen Dampfboot an der Küste entlang nach einem kleinen Fischerort gebracht. Die Bevölkerung desselben bestand theilweise aus Aïnos, jenem Volke, welches sich vor allen anderen der Erde durch eine starke Behaarung des ganzen Körpers auszeichnet – eine Eigenthümlichkeit, die von ihren Trägern für eine besondere Schönheit gehalten zu werden scheint; nehmen doch die Aïnofranen ihre Zuflucht zu der Kunst, um die Kargheit der Natur zu corrigiren, indem sie mittelst einer schwarzblauen Farbe die Oberlippe derart tätowiren, daß der Schein eines kräftigen Schnurrbartes erweckt wird (vergl. die umstehende Abbildung!). Früher die Hauptbevölkerung der südlichen Inseln des japanischen Reiches bildend, wurden die Aïnos im dreizehnten Jahrhundert dort ausgerottet; jetzt bewohnen sie nur noch die Insel Jesso und die Kurilen. Sie leben vom Fischfang und von der Zubereitung des Seetanges, welcher in den Küstendörfern am Strande getrocknet und in großen Bündeln meist nach China exportirt wird, wo dieser gerade nicht sehr wohlduftende Tang, gekocht oder als eine Art Salat, in großen Massen verzehrt wird. Die Aïnos sind außerdem sehr muthige Jäger, namentlich auf Bären, von denen es auf der Insel Jesso noch sehr viele giebt und welche sie meist mit vergifteten Pfeilen durch Selbstschüsse erlegen. Doch scheuen sie auch persönlichen Kampf mit den Ungethümen durchaus nicht, und wenn die Umgebung von Hokodade, wo die Bären eigentlich ausgerottet sind, einmal wieder durch solche Eindringlinge belästigt wird, so verschreibt die japanische Regierung stets einige Männer aus den nächsten Aïnodörfern, um die lästigen Gäste durch diese erlegen zu lassen. Trotz des gutmüthigen Charakters dieser Leute werden sie von den Japanern als ein früher unterjochtes und wenig civilisirtes Volk mit Verachtung angesehen, und in den Gasthäusern dürfen sie, wenn sie darin überhaupt geduldet werden, die ihnen zur Benutzung angewiesene Ecke, meist gleich beim Eingang, nicht überschreiten.

Die umstehende Abbildung, welche den Lesern einige charakteristische Typen von Aïnos vorführt, ist nach von Japanern gefertigten Photographien hergestellt und giebt ihren Gegenstand in naturgetreuer Weise wieder.[1]

(Schluß folgt.)



  1. Nicht unwillkommen dürften hier einige Mittheilungen über die Abstammung und die Naturanlagen der Aïnos sein. Dieses im Aussterben begriffene Volk ist von zweifelhaftem Ursprung; es wurde früher allgemein der turanischen und wird jetzt von Einigen der arischen Familie zugewiesen. Hervorragende Bildungsfähigkeit und Intelligenz ist ihm nicht eigen; dagegen zeichnet es sich durch eine unverkennbare Gutmüthigkeit aus. Die Aïnos sind von dunkelbrauner Gesichtsfarbe und mittlerem Wuchs, und ihr Körper ist, wie bereits oben erwähnt, fast ganz von starker Behaarung bedeckt. Unser heutiges Bild thut indessen dar, daß dieser eigenthümliche Volksstamm neben Gesichtern von dem unverkennbar stupiden Ausdrucke einer untergeordneten Rasse auch Physiognomien von edlerem Formcharakter und einem gewissermaßen europäischen Gepräge geistiger Belebtheit aufzuweisen hat.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_354.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)