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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

mit Recht behaupten, daß in ganz Europa kein Fluß so viel befahren wird, wie gerade die Wolga. Mehr als siebenhundert, theils Passagier-, theils Bugsirdampfer unterhalten den für Europa so wichtigen Handel und Verkehr zwischen Rybinsk und Astrachan. Viele dieser Schiffe gehen sogar hinauf bis nach Twer, von wo aus der Fluß eigentlich erst schiffbar genannt werden kann. Und der ungeheure Handel auf der Wolga vermehrt sich von Jahr zu Jahr um ein Bedeutendes. Noch gar nicht sehr lange, vielleicht seit vierzig Jahren, benutzt man zum Fortschaffen der Frachten und Passagiere die Dampfkraft. Wie schwierig und kostspielig früher der Transport bewerkstelligt wurde, kann man schon daraus schließen, daß man Monate dazu brauchte, um eine Ladung von Astrachan bis Nischni-Nowgorod oder Rybinsk heraufzuschaffen. Es wurden in erster Linie Segelboote verwandt, die jedoch bei den sehr verschiedenen Biegungen des Stromes nur mangelhaft

Die neue Riesenbrücke über die Wolga zwischen Sysran und Samara während des Baues. Nach einer photographischen Aufnahme auf Holz übertragen.

fahren konnten. Bei widrigen Winden oder bei Windstille benutzte man das alte Treidelsystem. Mehr als 150 Menschen zogen dann an einer einzigen solchen Barke.

Nachdem man endlich solcher kostspieligen Beförderung von Frachtgütern müde war, versuchte man ein anderes System, das dem ebengenannten gerade nicht um Vieles voransteht. Man brachte nämlich auf dem Schiffe große Winden an, mit denen man sich durch das Aufwickeln eines Taues bis zu einem in einiger Entfernung vor dem Schiffe ausgeworfenen Anker hinwand. Ehe man damit zu Ende war, wurde ein zweiter Anker ausgeworfen, und auf diese Weise quälte[WS 1] man sich monatelang, bevor man das festgesetzte Ziel erreichte. Die erwähnten Anker wurden anfangs von Menschen immer weiter getragen; später wandte man zu ihrem Transport Ruderboote an.

Auch diese Beförderungsart konnte bei weitem dem sich immer rascher mehrenden Handel nicht genügen. Man wagte es endlich mit der Dampfkraft. Im Jahre 1842 fand sich eine Gesellschaft von Kaufleuten zusammen, die es unternahm, einige Bugsirdampfer anzuschaffen. Mit fast abergläubischer Bewunderung wurden diese Schiffe bei ihren ersten Fahrten von den Uferbewohnern betrachtet, von denen Mancher sich hierdurch seines bisherigen Erwerbes für künftige Zeiten beraubt sah. Der Nutzen jedoch, den die Dampfer in kurzer Zeit einbrachten, wurde bald allgemein bekannt, und in größter Eile entstanden darauf immer mehr und mehr derartige Unternehmungen. So bildeten sich die Gesellschaften: Polsa im Jahre 1842, Wolga 1843, Kama-Wolga 1854, Kawkas und Merkurij 1855, Samolott 1856, Neptun 1859, Lebed 1868 und noch mehrere andere. Unter diesen sind natürlich auch viele, die den Passagiertransport in ihren Geschäftsbereich ziehen.

Von nun an begann eine ganz neue Periode im Handel und Verkehr auf der Wolga, und bald wandte sich auch der Handel vom südlichen und östlichen Rußland dorthin, was zur Folge hatte, daß viele bisher nur wenig bekannte Städte zu den blühendsten Handelspunkten heranwuchsen. Dieses ging so bis zum Jahre 1870.

Da sollte die Schifffahrt durch Anschaffung ganz neuer, kolossaler Passagier- und Frachtschiffe einen großen Umschwung erleiden. Ein gewisser Alphons Seveke, in Riga geboren, früher Schiffscapitain und darauf Verwalter der Kama-Wolga-Gesellschaft, überhaupt ein mit den ganzen Verhältnissen der Wolgaschifffahrt sowie der Schiffsbaukunst vertrauter Mann, gewann einige sehr reiche Kaufleute, darunter Russen und Engländer, zur Ausführung seiner Ideen und leitete selbst in der Benardacki’schen Fabrik in Sormowa die Erbauung eines gewaltigen Dampfers. Nach langer und mühevoller Arbeit und einem Kostenaufwand von 200,000 Rubel wurde im Juli 1871 dieses erste Riesenschiff, benannt „Pereworod“, das heißt Umwälzung, vom Stapel gelassen. Es war ganz nach amerikanischem System, mit mehreren Etagen und in kolossalen Dimensionen erbaut.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: qäulte
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 392. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_392.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)