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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Arbeiter noch zehnmal unglücklicher werden müßten als sie gegenwärtig sind, ehe die Saaten des internationalen Arbeiterbundes aufgehen könnten.

Endlich aber in faulen und schlechten Naturen weckte die socialdemokratische Agitation herostratische Gelüste. Die Frechheit, mit welcher sie die besitzenden und gebildeten Classen in allen ihren Gliedern als verkommen, die Arbeiter dagegen als edle und reine Menschen darstellte, bezauberte jeden dummen Jungen, der nichts gelernt hatte und auch nichts lernen wollte, aber begeistert die Aussicht ergriff, durch Bummeln und Schwatzen und sonstigen öffentlichen Unfug „berühmt“ zu werden. Dieser Größenwahn äußerte sich in mannigfachen Formen und verschiedenen Graden. Die Einen ergaben sich den brodlosen Künsten des Agitirens und Colportirens; die Anderen wurden „Schriftsteller“, zeichneten, als Strohmänner verantwortlich die Zeitungen der Partei und büßten mit harten Geld- und Gefängnißstrafen für die Verleumdungen der Demagogen; die Dritten „vermöbelten“, um in ihrer zarten Sprache zu reden, die „wissenschaftlichen“ Größen der „Bourgeoisie“; die Vierten suchten sich bemerkbar zu machen durch pöbelhafte Beschimpfungen des Reichsoberhauptes; die Fünften schritten vom giftigen Worte zur giftigen That, wie Hödel und, ihn nachahmend, Nobiling.

In diesem Sinne eine schwere Mitschuld des communistischen Wühlerthums an den Attentaten leugnen zu wollen, ist ein ganz vergebliches Beginnen. Hödel war sicherlich ein verkommener und verlotterter Bube, ehe er sich der Socialdemokratie anschloß; er wäre es auch nach allem menschlichen Ermessen geblieben, wenn er nie die Partei kennen gelernt hätte, aber so wie er war, wäre er aus eigenem Antriebe eher auf jedes andere Verbrechen verfallen, als auf den Kaisermord, wenn seine Theilnahme an dem umstürzlerischen Treiben nicht herostratischen Größenwahn in ihm gezüchtet hätte.

Die rasche Nachfolge, welche sein Verbrechen fand, die rohen Aeußerungen nichtswürdiger Schadenfreude, die überall aus den Massen hervorbrachen, bewiesen vollends, daß hier ein organisches Leiden vorliege, welches die höchste Aufmerksamkeit der Gesetzgebung erheische.

Die Folge der Attentate war bekanntlich die gesetzliche Unterdrückung der socialdemokratischen Agitation. Auch das Urtheil über diese Maßregel ist arg verwirrt durch der Parteien Gunst und Haß, weit ärger, als an sich nothwendig wäre. Man muß hier nur zwei ganz verschiedene Dinge aus einander halten. Der Satz, daß eine geistige Bewegung dauernd niemals durch äußere Mittel niedergehalten werden könne, ist richtig und unanfechtbar, aber wenn man ihn auf das Socialistengesetz in verurtheilendem Sinne anwenden will, so wird man doch zunächst nachzuweisen haben, daß die socialdemokratische Agitation eine geistige Bewegung gewesen ist. Der wissenschaftliche Socialismus freilich, ebenso wie das Streben der arbeitenden Classen nach einem höheren Antheil an den Schätzen der nationalen Cultur und des nationalen Wohlstandes, sind geistige Bewegungen; so weit in ihnen geschichtliches Recht enthalten ist, werden sie sich unwiderstehlich durchsetzen, und von einem Versuche, sie zu unterdrücken; gilt ganz und voll das Dichterwort:

Es wär’ ein eitel und vergeblich Wagen,
Zu fallen in’s bewegte Rad der Zeit.

Ganz anders steht es mit der socialdemokratischen Agitation. Sie war ein kühl berechneter und geplanter Versuch schlauer Demagogen, die bestehende Ordnung der Dinge gewaltsam umzustürzen. Sie war die politische Waffe einer politischen Partei; sie förderte mit roh revolutionären Mitteln roh revolutionäre Zwecke. Sich hiergegen zur Wehr zu setzen, die Waffe zu zerbrechen, die nach seinem Herzen gezückt wurde, war nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht des Staates, der, wie jeder lebendige Organismus, den Trieb der Selbsterhaltung hat, auf das Recht wie die Pflicht der Nothwehr niemals verzichten kann. Auch der freieste Staat wird offenen Aufruhr niederschlagen; ein derartiges Vorgehen ist einfach gleichbedeutend mit seinem Wesen und seinen Zwecken. In diesem Falle hatte die Socialdemokratie am wenigsten Recht, sich über Gewalt zu beklagen, welche Niemand anders auf der weiten Welt beschworen hatte, als sie selbst.

Ungleich bedeutsamer und weitertragend ist ein anderer Einwand gegen das Socialistengesetz: die Befürchtung nämlich, daß die äußerliche Stille, welche in grellem Gegensatze auf das wilde Toben der zügellosesten Demagogie gefolgt ist, die niemals allzu kraftvolle Initiative des Volks zur Beseitigung der socialen Mißstände und zur Beruhigung der irre geleiteten Massen vollends einschläfern wird. Und leider läßt sich nicht leugnen, daß diese Befürchtung ihren Grund hat, ja zum großen Theile schon eingetroffen ist. Soweit das Socialistengesetz wirken kann und soll, hat es gewirkt; mit unbarmherziger Sichel sind die hochwogenden Saaten der Revolution bis auf’s letzte Hälmchen niedergestreckt und über dem dürren Stoppelfelde heult schon der melancholische Herbstwind der inneren Zwietracht. Es ist eitel Unfrieden ausgebrochen im Lager der Weltumstürzler und Weltverbesserer; sie verschlingen und verzehren sich unter einander; Herr Most erklärt Herrn Liebknecht und Herr Liebknecht erklärt Herrn Hasselmann für einen Verräther; was kundige Urtheiler immer von dieser Spreu von Menschen geurtheilt haben, bestätigt sich vollkommen: der erste rauhe Windstoß hat sie von der Bildfläche gefegt. Käme es nur auf sie an, man könnte getrost der socialdemokratischen Bewegung die Grabschrift schreiben und den Leichenstein setzen.

Allein was die Grundquelle des Uebels angeht, die gerechten Beschwerden der Arbeiter über die Uebelstände, unter welchen sie leiden, so ist seit Erlaß des Socialistengesetzes kaum noch ein Spaten angesetzt worden, sie abzugraben. Alle schönen Vorsätze, die nach den Attentaten laut wurden, sind spurlos im Sande verlaufen; alle feierlichen Verheißungen, welche im Reichstage die Berathungen jenes Gesetzes begleiteten, sind verhallt, ohne ein Echo zu finden; alle tausendmal gehörten Betheuerungen, daß ohne organische Reformmaßregeln mit der bloßen Unterdrückung der socialdemokratischen Agitation nichts gethan sei, sind vergessen worden. Gesellschaft und Staat wetteifern in dieser verhängnißvollen Saumseligkeit. Jene ist matt und müde auf das alte bequeme Lotterbett zurückgesunken; sie läßt die Dinge gehen, als glaubte sie wirklich an das frivole Wort. „Nach uns die Sündfluth!“

In der Presse, im Vereins- und Versammlungsleben herrscht tiefe Stille über die wichtigste Frage des Zeitalters, es sei denn, daß die bekannten wohlwollenden, hunderttausendmal durchgekäuten Redensarten zum hunderttausend und ersten Male wiederholt werden. Nur Herr Stöcker treibt unermüdet die Socialreform in seiner Weise; er hat es den communistischen Demagogen glücklich abgesehen, wie sie sich räusperten und wie sie spuckten, und er liefert in seinen Versammlungen ein trauriges Zerrbild auf das, was sein sollte – auf alles, was sich Herz und Verstand, Wissenschaft und Würde nennt.

Nicht besser sieht es auf staatlichem Gebiete aus. Selbst die dringend notwendige Reform des Haftpflichtgesetzes, von dem durch hundertfache Beweise und das übereinstimmende Urtheil aller kundigen Stimmen feststeht, daß es in seiner jetzigen Form den socialen Frieden weit mehr stört, als fördert, ist noch nicht in Fluß gekommen. Ja, seitdem die Junker und Pfaffen in unseren Parlamenten das große Wort führen, scheint es, als ob unsere socialen Zustände mit Dampfkraft rückwärts revidirt, die besitzenden auf Kosten der arbeitenden Classen begünstigt werden sollen. Die neuen Steuern auf die notwendigsten Lebensmittel, namentlich die Korn- und Viehzölle, drücken die Lebenshaltung der Arbeiter vollends herab, belasten sie unverhältnißmäßig schwerer als die reichen und wohlhabenden Schichten der Nation. Das preußische Feld- und Forstpolizeigesetz löst glänzend eine Aufgabe, an welcher die geriebensten Demagogen der Socialdemokratie immer vergebens geräthselt haben: die Aufgabe nämlich, den communistischen Umtrieben einen bequemen und breiten Weg auf das platte Land zu eröffnen.

Ferner ist es ein offenes Geheimniß, daß mächtige Einflüsse gegen eine weitere Ausbildung des Instituts der Fabrikinspectoren arbeiten, es wohl gar wieder ganz verschwinden lassen möchten. Käme nun gar noch das Tabaksmonopol zu Stande, wie es fast zu Stande kommen zu sollen scheint, so würden einige hunderttausend ländliche und städtische Kleinbesitzer in das besitzlose Proletariat hinabgeschleudert und würde eine fast unerschöpfliche Quelle socialer Unzufriedenheit erweckt werden.

Das Alles eröffnet trübe Aussichten in die Zukunft. Es scheint, als ob, wie in aller Vergangenheit, so auch in aller Zukunft nur „die ungestüme Presserin, die Noth“, sociale Reformen hervorrufen könne. Ein letzter Lichtblick ist die rüstige Arbeit der Wissenschaft an der siegreichen Bewältigung der socialen Probleme.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_537.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)