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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


wohnen. Der Meerbusen ist von großen und kleinen Inseln erfüllt; nirgends ist offenes Meer; bei der Ebbe scheinen die Inseln mit dem Festlande verbunden zu sein. Im Frühjahr werfen die Fluthen hier den Bernstein, eine Ausscheidung des geronnenen Meeres, aus; die Einwohner sammeln ihn und verhandeln ihn theils nach dem Festlande, theils benutzen sie ihn als Feuerung. Auf den Inseln giebt es verschiedene wunderbare Bewohner – solche, welche nur von Eiern leben; dann die Hippopoden, Menschen mit Pferdefüßen; endlich die Panotier, welche solche große Ohren haben, daß sie ihren ganzen nackten Körper damit bedecken.

Man hat früher angenommen, Fahrt und Beschreibung des Pytheas habe der Ostsee gegolten, weil ein so reichlicher Bernsteinfund, wie er ihn angiebt, in der Nordsee nicht vorkomme, aber abgesehen davon, daß man auch in der Nordsee einen nicht unbedeutenden Bernsteinfund in alter Zeit nachweisen kann, giebt vor Allem die Schilderung ein so getreues Bild der Nordseeküste, daß an die Ostsee überhaupt gar nicht gedacht werden kann. Auch die wunderliche Nachricht von der Benutzung des Bernsteins als Feuerungsmaterial findet in der Neuzeit eine Parallele, indem berichtet wird, daß noch im vorigen Jahrhundert arme Leute angezündete Bernsteinstücken als Beleuchtungsmaterial benutzten. Nicht weniger zutreffend sind die Eieresser – wer Nordsee-Inseln während der Brutzeit besucht hat, wird sich der dort lagernden Eiermassen und ausgebrüteten Vögel erinnern.

Etwas wunderlicher schaut sich der Bericht von den Pferdefüßlern an, aber auch hier giebt uns die Gegenwart die sogar sehr nahe liegende Möglichkeit der Erklärung. Wenn irgend ein Bekleidungsstück, so bietet der niederdeutsche Holzschuh Formen von wahrhaft vorhistorischem Charakter dar – hier tritt aber nun der wichtige Umstand in den Vordergrund, daß gerade, wie ja auch J. G. Kohl ausführt, das Gebiet der Nordseeküste die eigentliche und alleinige Heimath dieses in Wirklichkeit pferdefußartigen Möbels ist, während seine Verbreitung nach Frankreich aus verschiedenen Gründen als eine secundäre erscheint. Bedenkt man ferner, wie treu sich Formen, welche wir schon bei den alten Schriftstellern geschildert finden, auf niederdeutschem Gebiete bis zu unserer Zeit vererbt haben, so kann man nicht mit Unrecht vermuthen, daß in diesen Hippopoden des Pytheas die früheste Spur des gerade für diese Gegenden zweckmäßigen Holzschuhes zu suchen ist.

Jeder Anhalt fehlt uns dagegen bei der dritten Art Inselbewohner, derjenigen, welche so große Ohren haben, daß sie ihnen zugleich als Toilette dienen. Solchen Ohren gegenüber müssen freilich diejenigen unserer gegenwärtigen Küstenbewohner als höchst rudimentäre Organe erscheinen, und wenn man nicht annehmen will, daß mit der fortschreitenden Bekleidungskunst eine entsprechende Rückbildung der Ohren eingetreten ist, so bleibt Nichts übrig, als das zu thun, wozu sich der Gelehrte so schwer entschließt – nämlich zu gestehen, daß wir Nichts darüber wissen. Die Vermuthung ist höchstens berechtigt, daß es sich hier um ein Kleidungsstück, eine Art Kappe im niederdeutschen Sinne handelt.

Waren, mit Ausnahme des eben erwähnten, fast alle Einzelheiten jener alten Beschreibung zu erklären, so bleibt doch ein Theil, der allerdings Schwierigkeiten bereitet – die Erzählung vom geronnenen Meere und was damit zusammenhängt. Man muß hier eine scharfe Scheidung von zwei ganz verschiedenen Scenerien vornehmen. Das geronnene Meer, von dem später auch noch die Römer und deutschen Seefahrer sprechen, verlegt man, und wohl mit Recht, in die Nähe der Orkneys- und Shetland-Inseln, wo starke Strömungen, schwerer Seegang, Nebel und Windstillen häufiger, als in den angrenzenden Meeren der Fall ist, die Schifffahrt erschweren. Für die weitere Schilderung aber, wie „Erde, Meer und Luft in einander übergehen, ein Gemisch, das man nicht betreten und beschiffen kann, einer Seelunge vergleichbar“, müssen wir uns nach einer Localität umsehen, welche dem Bilde zu Grunde gelegen haben mag; denn dasselbe trägt so viel Localfarbe an sich, daß man nicht blos an ein allgemeines phantastisches Bild denken kann. Die Schilderung selbst aber paßt so vortrefflich auf das Watt, daß wir uns oben bei Beschreibung desselben sogar jener Vergleiche bedienen konnten.

Mit dem Bilde der „Seelunge“ als einem Mitteldinge zwischen Thier und Pflanze, wählte Pytheas einen trefflichen Vergleich zur Bezeichnung eines Mitteldinges zwischen Land und Meer, wie es das Watt ist. Das übrige, sagt Pytheas, habe er von Hörensagen – hier haben wir also eine alte Tradition der Eingeborenen auf den britischen Inseln und damit zugleich die denkbar älteste Ueberlieferung vom Watt und der Nordseeküste vor uns. Abgesehen davon, daß in vorhistorischer Zeit die Ausdehnung des Schwemmlandes eine viel größere gewesen sein wird als heute, besaßen die frühesten Bewohner der britannischen Inseln sicher ein Bild der gegenüberliegenden Küste und ihrer Wattscenerie, wohin wohl so mancher von ihnen in seinem Lederschiffe bei düsterem Wetter verschlagen worden war – wo Erde, Luft und Himmel sich vermischten, und wo auch für sie die Welt aufhörte. Dieses Bild der gegenüberliegenden östlichen Küste übertrugen sie dann im weiten Bogen auf den ganzen Horizont ihrer Weltanschauung.

Erscheint die Beschreibung des Pytheas immerhin noch in etwas sagenhaftem Gewande, so tritt unsere Landschaft in das helle Licht der Geschichte mit dem Beginn der Römerzüge gegen die germanischen Stämme der Küste, welche sich hier in ihrer ganzen wilden Großartigkeit zeigt.

Den Reigen eröffnet Drusus im Jahre Zwölf vor Christus mit seiner sowohl in den Zielen wie in den Resultaten ziemlich dunkeln Seefahrt. Nachdem er – ein riesiges Werk, eine Verbindung zwischen Rhein und dem jetzigen Zuidersee (damals ein kleiner Archipel) hergestellt und die Bundesgenossenschaft der Friesen erworben hatte, ging er mit der Flotte in das Wattenmeer und eroberte die Insel Burchanis, das jetzige Borkum, welche damals einen weil größeren Umfang hatte, als gegenwärtig. Nach einem Kampfe mit den Bructerern auf der Ems finden wir ihn plötzlich am Gebiet der Chauken im Wattenmeere festsitzen, „da die Schiffe im Ocean auf das Trockene geriethen. Von den Friesen, welche als Fußmannschaft den Zug mitmachten, aus dieser Noth befreit, kehrte er, da es Winter ward, um und begab sich nach Rom.“ Diese kurze Angabe des Dio Cassius ist ziemlich dunkel; es sieht fast darnach aus, als habe das Watt schon damals beim ersten feindlichen Angriff auf unsere Küsten sich als jener mächtige Bundesgenosse in der Vertheidigung derselben bewährt, wie dies späterhin und zuletzt noch im siebenziger Kriege der Fall war.

Der nächste Zug war der des Tiberius, der mit großartigeren Mitteln durchgeführt auch zu dem gewünschten Resultate führte, indem die durch das Wattmeer fahrende Flotte und das zu Lande vorrückende Heer sich im Gebiet der Langobarden an dem rechten Elbufer, und zwar in seinem der Mündung nahe liegenden Theile trafen. Details über diese Wattfahrt besitzen wir nicht. Desto interessanter für uns gestaltet sich der Zug des Germanicus im Jahre Fünfzehn nach Christus. Von der Insel der Balaver an der Rheinmündung zog er mit einer Flotte von tausend für die Fahrt auf dem Wattmeer besonders gebauten Fahrzeugen aus, passirte den Drusus-Canal und segelte dann durch das Watt in die Ems ein, wo die Flotte vor Anker ging, während das Heer über die Weser rückte und die Schlacht von Idistaviso schlug. Germanicus wählte zur Rückbeförderung der Armee wiederum das Watt, und hier sollte ihm das Gefährliche seiner Fahrt zum vollen Bewußtsein kommen; denn um ein Haar hätte er im Aufruhr der Elemente sämmtliche Legionen verloren. Von Böen mit Hagelwetter überfallen, wurde die Flotte schließlich durch einen schweren Südsturm in die Nordsee geschleudert, Pferde, Lastvieh, Gepäck, die Waffen wurden über Bord geworfen, um die Schiffe zu erleichtern, die Sturzseen erhielten und Wasser zogen. „Soviel, als der Ocean großartiger ist als andere Meere, soviel übertraf das Unglück alles durch seine Neuheit und Größe: ringsum feindliche Küsten, und das Meer so weit und tief, daß man annimmt, es sei das Ende der Welt.“

Im Anschluß an diesen Kampf mit den Elementen sei noch einer anderen ganz eigenartigen Thatsache erwähnt: daß die Römer an den Flußmündungen, als wollte selbst das Binnenland am Kampfe gegen die fremden Eindringlinge Theil nehmen, von schwimmenden Inseln angefallen wurden, auf denen riesige Eichen standen, deren Aeste wie das Takelwerk von Schiffen aussahen. Die Römer mußten diesen Stämmen, wie Plinius sagt, förmliche Seeschlachten liefern, da sie sonst kein Sicherungsmittel wußten. Vor längerer Zeit erzählten wir in der „Garlenlaube“ (vergl. Jahrg. 1861, S. 666) von dem wunderlichen schwimmenden Lande in Niederdeutschland – hier finden wir es im Berichte der Alten wieder.

Eine Heerfahrt von dem Umfange der römischen hat das Wattmeer nicht wieder gesehen, ausgenommen höchstens die Flotte der Sachsen, als sie unter Hengist und Horsa von der Nordseeküste

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 551. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_551.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)