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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Netzes, in dem sie mich einst gehalten, gerissen waren, änderte sie geschickt ihre Manöver und spielte neue Karten auf den Tisch.

„Hans, Du bist der einzige Mensch auf der weiten Welt, dem ich vertrauen kann, der mir ein wahrer Freund ist. Die Wahrheit zu sagen; ich fürchte mich vor dem Baron. Er ist furchtbar in seinem Jähzorn. Du müßtest sehen, wie dunkelblau die Adern ihm dann auf der Stirn schwellen, wie seine Augen blitzen. Ich glaube, er wird mich tödten, zermalmen, wenn er erfährt … Hans, Hans,“ sie faltete beschwörend die schmalen Kinderhände zusammen und blickte mich flehentlich an – „Du mußt mir forthelfen von hier, ehe … Nimm mich morgen mit, ehe Einer wacht, verstecke mich irgendwo in der Residenz, bis seine erste Wuth vorüber ist, laß mich –“

„Was in aller Welt hast Du denn angerichtet?“ unterbrach ich sie.

„Mein Stiefsohn,“ sagte sie zaudernd, „starb durch –“

Es klopfte leise. Ich ging zur Thür und öffnete. In dem hallenartigen, von gothischen Fenstern hier und da durchbrochenen Corridore stand hoch und schlank Ingeborg.

„Der Baron sucht Ina,“ sagte sie; in ihrer Stimme lag vieles: Tadel, Geringschätzung – ich weiß nicht was noch. Unwillkürlich tastete ich nach Ingeborg's Hand und hielt sie fest. Die Mißachtung dieses hoheitsvollen Mädchens wollte ich nicht ertragen.

Die Baronin war erschrocken aufgefahren und an uns vorüber wie ein gehetztes Reh die Treppe hinabgeeilt. Durchdringend und kalt sah Ingeborg mich aus ihren großen Augen an; ihre Finger ruhten leblos wie Marmor in meiner Hand.

„Hoffentlich messen Sie mir keine Schuld an dem Besuche der Frau Baronin bei,“ sagte ich.

„Jetzt nicht mehr,“ entgegnete sie mit stolzer Wahrheitsliebe. Ihre Finger drückten leise meine Hand, ehe sie sie zurückzog. Wie schnell eine edle Seele einen vorwurfsfreien Menschen erkennt und versteht!

„Könnte ich den Verstorbenen heute Nacht noch sehen?“ fragte ich. Ina's angstgefolterte Worte hatten mir einen furchtbaren Verdacht erweckt.

„Wenn Sie die Unbequemlichkeit nicht scheuen und einen Augenblick warten wollen, Herr Professor, bis ich den Schlüssel der Verbindungsthür geholt, will ich Sie hier über die Gallerie in die Hauscapelle führen, wo sie die Leiche aufgebahrt haben. Wir stören dann Niemanden und können unbemerkt hingelangen. Warum den armen Vater erst daran erinnern? Setzen Sie lieber Ihren Hut auf! In der Gallerie zieht es sehr.“

Sie ging und war mit dem Schlüssel gleich wieder da. Während wir durch die säulengetragene Loggia schritten, die längs der Seitenwand des Schlosses hinlief und die Capelle mit demselben verband, versuchte ich aus dem schweigsamen Mädchen etwas über des Junkers Krankheit und Tod zu erfahren. Sie bestätigte, daß er als Kind an Zuckungen gelitten. Wie scharf dieses stille Mädchen beobachtete, sah ich daraus, daß sie mit dem Auge des Physiologen jeder, sonst nun dem Mediciner erkenntlichen Krankheitserscheinung gefolgt war. Sie schilderte klar die Vorboten der Anfälle, die um die Augen herum in's Bläuliche spielende, auf Wangen und Nase in's Gelbliche fallende Gesichtsblässe, die Verminderung der natürlichen Wärme, das Frösteln, die spitze, verengte Nase, die den Athem beschwerte; von der gesteigerten Nerventätigkeit, dem Hart- und Erstarrtwerden der Muskel gab sie mir in einfach-schlichten Worten ein anschauliches Bild.

Meinen Fragen nach den letzten Erscheinungen vor dem Tode Malte's wich Ingeborg aus; sie sagte ganz aufrichtig: da Alles zu spät sei, möchte sie lieber nicht darüber sprechen.

Sie hob das Windlicht hoch und beleuchtete die ausgebuchteten Steinstufen, die wir zu einem schmalen Gange hinunterzusteigen hatten. Die feuchten Steinwände glitzerten im Licht, als hätten sie sprühende Krystallatome angesetzt; unsere Schritte hallten dumpf wider in dem gruftartigen Raume. Feucht und moderig schlug uns die Luft entgegen.

„Hier ist lange nicht gelüftet worden. Der Gang wurde, glaube ich, seit meiner Taufe nicht wieder benutzt,“ bemerkte Ingeborg, indem sie anfangs vergeblich versuchte, das eingerostete Schloß einer schweren Thür mit dem Schlüssel zu öffnen.

„Seit Ihrer Taufe? Erinnern Sie sich derselben?“ war meine lächelnde Frage.

„Gewiß. Ich war damals drei bis vier Jahre alt.“

„So spät sind Sie getauft?“

„Die verstorbene Baronin hielt es für ihre Pflicht, den kleinen Fremdling auf alle Fälle taufen zu lassen, damit nicht möglichen Falles ein Heide unter ihrem frommen Dache groß würde. Ach so, Herr Professor, Sie wissen wahrscheinlich nicht, was jedes Kind im Dorfe Ihnen erzählen könnte: daß ich ein vom Meere ausgespültes namenloses Ding bin.“

„Eine Perle,“ sagte ich halblaut zu mir selbst; zum Glücke kreischte das alte Thürschloß so sehr, daß sie es nicht hörte.

„Der Baron hat nach stürmischer Nacht mich aus einer Kiste aufgelesen, die an die Küste trieb. Ich stammelte eine fremde, Allen unverständliche Sprache, und da man nichts als 'Inge' heraushörte, nannte man mich: Ingeborg. Der Eine hält mich für eine nordische Prinzessin irgend eines fernen Landstrichs; der Andere meint, ich sei das Kind des Capitains von dem gescheiterten Schooner, den man Abends vorher gesehen, dessen Nothschüsse man gehört und der dann mit Mann und Maus von der Meeresoberfläche verschwunden war. Keine lebende Seele hat mich zurückgefordert oder auf die vielen Zeitungsaufrufe auch nur ein Zeichen gegeben, und so hat die Baronin, statt der gestorbenen kleinen Tochter, die Malte's Zwillingsschwester war, mich bei sich behalten. Sehen Sie, Herr Professor, so kam es, daß ich meiner eigenen Taufe mich entsinnen kann. – – Bitte, versuchen Sie doch einmal!“ bat sie auf den im Schlosse steckenden Schlüssel zeigend.

Wirklich gab das Schloß meinen wiederholten Anstrengungen nach. Die eiserne Pforte that sich knarrend auf, und wir traten in die todtenstille Capelle.

Unheimlich hallten die Fließen unter dem Fuß; unheimlich sah der fahle Mond durch die bunten Kirchenfenster; unheimlich raschelten die trockenen Todtenkränze an den Wänden, als wir sie im Vorübergehen streiften.

Mit schwarzem Tuch waren die Wände rings um den Altar ausgeschlagen, und die breiten Stufen mit hohen Fächerpalmen besetzt. Dicke Wachskerzen dampften um den Katafalk, und bleich und still hingestreckt lag ein Jüngling darauf. Die zusammengekrümmten Hände ruhten auf der Brust; die Gesichtsmuskeln waren in ergreifendem Ausdruck des Schmerzes erstarrt. Man sah diesem schönen Jünglingsantlitz, das eine zartere, feinere Copie des Barons war, an, daß es blitzartig hingemäht, durch irgend ein überwältigendes Ereigniß aus dem Leben gegangen war. Wo blieb mein schwarzer Argwohn? Hier hatte keine fremde Hand störend in den Mechanismus eingreifen können, und doch klagte sich die Baronin selber an? Sollte sie –?

O nein, so freventlichen Thuns, so schamloser Leichtfertigkeit konnte ich sie unmöglich für fähig halten. Immer räthselhafter, immer dunkler wurde mir ihr Thun; sollten wir es mit geistiger Störung zu schaffen haben? Arme, kleine Ina, es wäre gräßlich. Hatte der schnelle Tod des Stiefsohnes deinen hellen Kopf zerrüttet; oder war er dir mehr gewesen, als er dir sein durfte? Ueberlebten Beweise und Zeichen einer sündhaften Neigung zu ihm den Verstorbenen und zittertest du deshalb vor der drohenden Entdeckung, vor deines Gemahls furchtbarem Zorn?

So wälzten sich die Gedanken in meinem Hirn, während Ingeborg's Hand liebevoll die lichtbraunen Locken aus der marmornen Stirn des Todten fortstrich.

An dem Hauptportal klirrte ein Schlüsselbund. Ingeborg zog mich stumm mit sich in die Sacristei, während ein schlarfender Schritt durch die Säulenhalle kam, und das Licht einer Handlaterne vor dem Ankömmling her auf die Fließen fiel.

Die Stirn an das durchbrochene Metallfenster der Sacristei gedrückt, spähte ich hinaus. Der Schritt, der ein leises Echo hatte, kam sehr langsam näher. Es war nicht eine Person; es waren deren zwei. Der die Laterne trug, war ein alter Mann, der den Schirm der Hausmütze tief über die Augen gezogen hatte; neben ihm schritt eine weibliche Gestalt von der Größe und Zierlichkeit der Baronin; es wurde ihr sichtlich schwer, sich fortzubewegen; sie stand alle Augenblicke still und hielt sich an den Kirchenstühlen aufrecht, und die Altarstufen stolperte sie förmlich herauf. Der alte Mann griff ihr stützend unter die Arme.

Ich blickte mich fragend nach Ingeborg um, die neben mir am Fenster stand und mit reger, ich möchte fast sagen: gespannter Theilnahme dem Schauspiel da am Sarge folgte. Ihre Augen schwammen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_562.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)