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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


in Thränen; sie drückte bedeutsam meine Hand, als wollte sie jedes Wort niederhalten.

Die Frauengestalt war neben dem Katafalk mit leise wimmerndem Klagelaute zusammengebrochen. Das ihr vom Kopf herabgesunkene Tuch ließ eine schimmernde Pracht aschblonder Flechten sehen, auf denen das hin und her flackernde Kerzenlicht elektrische Funken sprühen ließ. Ein jugendlich schönes, gramdurchwühltes, verweintes Gesicht lag unter den schweren Flechten, ein Gesicht, dessen Hauptreiz unbeschreibliche Unschuld und Reinheit war, die kindliche Unberührtheit eines unentweihten Herzens. Heftiges Schluchzen erschütterte die feine, zarte Gestalt.

„Leonore, das darfst Du mir nicht anthun,“ sagte der Alte, „siehst Du, ich hätte nicht nachgeben, Dich nicht hierher geleiten sollen. Nur wird mein fröhlicher Singvogel die Flügel hängen lassen und auch hinsterben vor Gram. Kind, Kind, für den Tod ist kein Kraut gewachsen. Alt muß sterben; Jung kann sterben und Dein armer alter Vater hat nichts auf der Welt als Dich. Leonore, Leonore,“ rief er angstbeklommen, als das Mädchen wie von Sinnen ihr bleiches Gesicht in die Bahrtücher grub, „Leonore –“

Plötzlich verstummte er. Mit weit aufgerissenen Lidern, als sähe er etwas Gräßliches, stierte er auf den Todten. Ein angstvoll kreischendes: „Alle guten Geister loben den Herrn!“ brach von seinen Lippen; er wankte und wäre wohl die Altarstufen hinabgestürzt, hätten Ingeborg und ich, hastig herbeispringend, ihn nicht aufgefangen.

„Mann, was ist Euch – Küster, was haben Sie?“ drangen wir auf den Verstörten mit Fragen ein. Mit dem erhobenen Finger deutete er starr auf die Leiche. Was ich da sah, hätte auch stärkere Nerven, als die des armen, alten Küsters in Aufruhr bringen, auch einen festeren Verstand mit abergläubischem Grauen packen können. Der Todte, der vorhin auf dem Rücken gelegen, hatte jetzt das Antlitz ein klein wenig auf die Seite gekehrt; die gekrümmte Rechte war nun lang ausgestreckt schlaff herunter gefallen; die starren Finger berührten mit ihren Spitzen den Boden.

Den fassungslosen Greis schnell in einen der Kirchenstühle drückend, waren Ingeborg und ich mit einem Satze die Stufen wieder hinauf neben der Bahre. Ingeborg hob das ohnmächtig hingesunkene Mädchen mit schneller Geistesgegenwart empor und trug es hinaus – ich weiß nicht wohin – in das Küsterhaus wahrscheinlich. In einer Minute war sie wieder zurück und rüttelte den geistesstumpfen Alten auf.

„Mann, rafft Euch auf, damit wir dem Doctor da helfen können! Hier handelt es sich um ein rückkehrendes Leben, das wir vielleicht dem Tode noch abringen können. Auf, Vater Steffens, wenn Ihr den Junker je lieb gehabt!“

Das barsche Wort half schneller und besser, als jede Erklärung; es rief die gestörten Sinne des Küsters zur Ordnung. Das kluge, starke Mädchen ließ mich vergessen, daß es ein Weib, daß es nicht mein guter tapferer Camerad war in dieser schweren Stunde. Die Gedanken las sie mir von der Stirn, jede Sorge aus der Seele. Sie quälte mich nicht mit müßigen Fragen: „wird er leben, wie, wann?“ Instinctiv errieth sie meinen Ideengang, kam meinen Absichten resolut mit der That entgegen, ward ohne Prüderie, nur der Herrschaft des Augenblicks gehorchend, mein Assistent, ein schweigsamer, kluger, mit divinatorischer Kraft begabter Assistent, wie sich jeder Arzt ihn in so schwierigem Falle, wo Tod und Leben an einem seidenen Haare hängt, nur begehren kann. Noch ehe ich den Wunsch aussprechen konnte, den Unglücklichen aus seiner schauerlichen Umgebung zu entfernen, um bei der möglichen Rückkehr zum Leben ihn nicht den schädlichen Eindrücken derselben preiszugeben, schlug sie mir vor, denselben in das angrenzende Küsterhaus zu tragen, um den Schloßbewohnern nicht vorzeitige Hoffnungen zu erwecken, die sich vielleicht doch nicht realisirten.

Ueber den kleinen Hofraum, der die Capelle von der Küsterwohnung trennte, half sie dem Alten und mir den Körper tragen. In der niedrigen Wohnstube legten wir ihn auf das Ledersopha.

Lebte er wirklich noch?

Eine genaue Auscultation der Herzgegend ließ mich beinahe hoffnungslos; Aufträufeln von Siegellack und kochendem Wasser blieb nutzlos, ebenso Bürsten der Fußsohlen, Waschungen mit Naphtha und Wein; vergeblich reizte ich die Nasenlöcher; mittelst einer rasch gewirbelten Feder bespritzte ich ihm kräftig Gesicht und Brust etwa zehn Mal mit kaltem Wasser. Blutüberführung aus einem gesunden in diesen dem Leben noch halb angehörigen Körper konnte vielleicht nützlich sein – woher aber das Blut in aller Eile nehmen? Ich ließ ein Wort davon zu Ingeborg fallen. Stillschweigend streifte sie den Aermel vom Arme und reichte ihn mir, als verstünde sich das von selbst.

Ich führte dieses kostbare Blut mittelst einer gewöhnlichen kleinen Spritze in eine Vene des Scheintodten ein. Vergeblich!

Beinahe verzweifelte ich. Noch zwei Versuche – schlugen sie fehl, mußten wir den jungen hoffnungsvollen Leib da doch der finsteren Gruft übergeben.

Sein Gesicht abwärts kehrend, seine Brust durch Unterschieben meines zusammengerollten Rockes erhöhend, versuchten wir ihn zu Athmungsbewegung zu zwingen. Wir wandten ihn sanft auf die Seite, noch ein wenig darüber hinaus, dann rasch wieder auf das Gesicht. Dieses Umwenden wiederholten wir durchaus gleichmäßig, etwa fünfzehnmal in der Minute, und jedesmal, sobald der Körper wieder auf dem Gesicht lag, drückten wir kräftig die Rückenfläche seines Brustkastens entlang mit der Hand, bis er wieder auf die Seite gedreht wurde. Vergeblich!

Wir legten ihn, beinahe muthlos schon, auf dem Rücken ausgestreckt auf ein schräggelegtes Brett, sodaß Kopf und Brust ein wenig höher lagen, und schoben ihm zusammengerollte Bettkissen unter die Schulterblätter. Ingeborg stellte sich auf meine Anordnung hinter den Kopf des Leblosen, faßte sodann beide Arme nahe oberhalb der Ellbogen und zog dieselben sanft und gleichmäßig schnell bis zum Rumpfe herauf, zugleich etwas rückwärts und nach außen. Zwei Secunden lang hielt sie die Arme so nach oben gestreckt; dann bewegte sie dieselben langsam wieder abwärts und drückte die Ellbogen fest gegen die Seiten der Brust. Sofort wurden dann die Arme wieder erhoben, wieder herabgelassen, tactmäßig ruhig, fünfzehnmal in der Minute. Den Secundenzeiger meiner Uhr scharf im Auge, gab ich das Tempo an. So müheten wir uns eine Stunde – auch das war vergeblich.

Ein leises Wort zu Ingeborg, und sie eilte in die angrenzende, räucherig finstere Küche, wo eben ein gebücktes Mütterchen die Kohlengluth anblies. Sanft schob sie die Alte bei Seite. Ihre weißen Hände schürten schnell die Gluth, und setzten auf den Dreifuß den irdenen Topf mit Wasser. Die helle Flamme bestrahlte ihr schönes ernstes Gesicht, während sie aus dem ärmlichen Hausrath zusammensuchte, was ich haben wollte.

Nun brachte sie schnell herbei, was ich in Ermangelung einer galvanischen Batterie gebrauchte, um durch Elektricität auf die erstarrten Lebensfunctionen einzuwirken. Da die Voltasäule von Doppelplatten mir in der Geschwindigkeit zur Elektropunctur fehlte, stach ich eine feine Acupuncturnadel in die Gegend des Herzens zwischen die Rippen einen halben Zoll tief ein und befestigte daran einen silbernen feinen Draht, den Ingeborg im Schlosse aus einer venetianischen Filigranarbeit gebrochen hatte; hieran fügte ich einen silbernen Löffel, den ich in ein Glas mit Salzwasser brachte. Noch eine zweite Nadel stach ich in die Herzgrube, befestigte daran einen andern feinen Draht, woran sich ein Stück Zink befand, und legte dieses in ein Glas mit warmem Wasser und Asche. Beide Gläser stellte ich nun nahe an einander und schloß abwechselnd die galvanische Kette durch einen feinen, polirten, trocknen Draht, den ich mit meinem seidenen Taschentuche anfaßte.

Mit aufmerksamem Auge war Ingeborg jeder meiner Bewegungen gefolgt. Ich glaube, daß das Interesse an dem wissenschaftlichen Experimente sie eine Secunde sogar ihren Schmerz überwinden ließ. Mit angehaltenem Athem folgten wir gespannt der Wirkung dieses letzten einfachen Mittels.

Gott im Himmel, in der elften Stunde hattest du Erbarmen mit diesem jungen zu früh gebrochenen Dasein.

Leise Erschütterungen erfolgten nach einer Weile. Die fahlen Lippen rötheten sich schwach. Nach zwanzig Minuten vernahm mein tief über Malte gebeugtes Ohr einen zartsäuselnden Laut, schwach wie ein Hauch, dann leises Athmen, der Anfang wiederkehrender Respiration, die mehr zu errathen, als wahrzunehmen war.

Noch eine Viertelstunde und in das Todtengesicht tritt matte Färbung; die steifen Muskel werden schlaff, dann die erschlafften allmählich gespannt. Mit einem tiefen Seufzer schlägt der dem Leben Zurückgegebene klar bewußt die dunkelblauen Augen groß auf, und läßt sie von Einem zum Andern wandern.

Aus der angrenzenden Kammer ist eine weiße Mädchengestalt scheu auf die Schwelle getreten. Keiner hat sie im Eifer angestrengtester Erwartung gesehen, Keiner sie beachtet.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 563. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_563.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)