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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Kalkbrennereien verhandelt werden, welche den sogenannten Muschelkalk daraus fabriciren.

Fragen wir nun, ob das Watt den Menschen sonst noch irgend welche Gelegenheit zur Ausnutzung bietet, so ist wohl zunächst die Fischerei zu nennen, doch ist dieselbe, wenn man von dem Schellfischfang und der Austernfischerei absieht, eine geringe und beschränkt sich wesentlich auf den Fang der Granaten und des Butt. Früher wurde dieser, und wird im Einzelnen noch jetzt hier und da auf die Weise betrieben, daß die Leute, oft bis an den Leib im Wasser watend, ein Netz vor sich herschoben, den Fang so bewerkstelligend. Jetzt hat man ihn da, wo man ihn für den Versand betreibt, praktischer organisirt, indem man die Netze, an Pflöcke befestigt, in die Mündung von Prielen legt: wenn nun die Fluth sich in letztere ergießt, spült sie die Granaten in die offenen Netze hinein. Dieselben werden alsdann mit Kähnen eingeholt und auf Schleifen über den weichen Schlamm an’s Ufer befördert.

Die Fischerei im Großen wird vielmehr von den geflügelten Bewohnern der Luft betrieben, welche, sobald die eintretende Ebbe ihnen den Tisch servirt, zu Tausenden und aber Tausenden das Watt bedecken, Möven, Kibitze, Strandläufer, Regenpfeifer etc. – hier läßt sich eine Schaar nieder, dort hebt sich eine andere empor, um nach einigen Minuten Geflatters wieder einzufallen – ein buntes, aber auch das einzige Leben im Watt, ausgenommen freilich alles, was da im Schlamme und in den Prielen schwimmt und kriecht und für jene Vogelschaaren die leckere Mahlzeit darbietet.

Noch eines Geschöpfs dürfen wir nicht vergessen: des Seehundes, der das Wattmeer in ziemlich großer Zahl belebt und bei stillen sonnigen Tagen sich auf dem Watt da sonnt, wo die Fluthen noch in der Nähe heranlecken. Der Seehund hat eine außerordentlich feine Witterung, und man muß ihn mit großer Vorsicht unter dem Winde beschleichen, wenn man zum Schuß gelangen will. Früher war er noch häufiger, und die Marschbewohner schlugen ihn im Schlafe mit Knüppeln todt. Die dicken Köpfe des Seehundes mit den glotzenden Augen, sowie die Purzelbäume des grotesken Tümmlers mögen wohl vielfach bei den römischen Soldaten die Veranlassung gegeben haben, an fabelhafte drohende Wesen in der Nordsee zu glauben, wenn ihre Urtheilskraft schon durch die Schrecken des Sturmes beeinträchtigt war.


Kugelbaake an der Elbmündung.
Originalzeichnung von Ferdinand Lindner.


Wer sich aber bei der Jagd oder sonstwie zu weit in das Watt hinauswagt, ohne den Fluthkalender, die Windrichtung und die Jahreszeit in Rechnung zu ziehen, der ist rettungslos verloren, wenn er von der Fluth überrascht wird, und kaum ein Jahr vergeht, wo die See nicht hier oder da an der Küste ihr Opfer hinwegholte – und wen erst die zweite mächtigere Welle erfaßt hat, den nimmt sie auch unbarmherzig mit hinaus, um ihn erst als Leiche wieder an den Strand zu werfen. Namentlich kommt es öfter vor, daß ein leichtsinnig befestigtes Boot abtreibt und die Insassen ihrem Schicksal überliefert.

Auch bei der Fahrt mit Wagen über das Watt hin muß man stets Jahreszeit und Wind in’s Auge fassen, deshalb nämlich, weil, wenn der Wind von der See hersteht, die Fluth oft früher eintritt, als der Kalender angiebt.

Nie darf man bei Nebel das Watt betreten; einmal in der Richtung unsicher geworden, würde man der Fluth direct in die Arme laufen; in einer ebenso verzweifelten Lage ist derjenige, der weit draußen im Watt von einem jener von der See her sich plötzlich heranwälzenden Nebel überfallen wird; denn ein Wunder ist es zu nennen, wenn er in diesem Falle dem Ertrinken entgeht.

Dies sind nun freilich Gefahren des Watt, die den Einzelnen, Unvorsichtigen allein treffen – sie verschwinden neben der furchtbaren Großartigkeit der Gefahren, mit denen die Watten unserer Nordseeküste die gesammte schifffahrende Welt bedrohen. Grauen erfaßt den Schiffer, der sich bei Sturm in ihrer Nähe weiß; stundenweit bietet das Watt bei Sturm das Bild einer einzigen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 569. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_569.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)