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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

schönere Beziehung zu mir und kehrte so deutlich die Cousine – nur immer die Cousine – heraus, daß mir nichts anderes übrig blieb, als mit möglichster Ruhe, wenn auch mit heimlichem Verdruß, der Vetter zu bleiben, weiter nichts als der „Vetter“.

Sie war nicht unfreundlich zu mir, o bewahre! Keine Cousine der Welt hätte liebenswürdiger sein können, aber sie vermied doch Alles, was an Vergangenes auch nur im Entferntesten erinnern konnte, und die Buchenlaube dort unten im Garten schien gar nicht mehr für sie zu existiren. Desto mehr für mich; ich saß halbe Nachmittage und des Abends zuweilen bis Mitternacht darinnen, und mitunter klopfte mein Herz zum Zerspringen, wenn in nächster Nähe ein duftiges weißes Kleid durch die Büsche schimmerte und eine anmuthige Stimme ein Liedchen trillerte. So recht aus der Seele klang es freilich nicht, und es schnitt mir in's Herz, wenn sich die zierliche Gestalt, die ich bereits in die Laube treten sah, kurz abwendete, um in einem der schattigen Wege zu verschwinden.

Onkel und Tante betrachteten mich sorgenvoll, denn daß mir die Geschichte tief zu Herzen ging, mochten sie mir wohl ansehen. Der Cousine Frieda zeigte ich es freilich nicht – um so weher that es nach innen.

Bis jetzt hatte das Mädchen jedes Alleinsein mit mir zu vermeiden gewußt; um so überraschter war ich, als ich sie plötzlich meinen Namen rufen hörte.

„Willst wohl zum rothen Hause? Wenn es Dir nicht unangenehm ist, Vetter“ – sie betonte dieses entsetzliche „Vetter“ immer ganz besonders – „so komme ich mit. Vater sagt mir eben, dem alten Wendenburg sei die Frau erkrankt, und Mutter hat mir Tropfen für sie gegeben; sie hat lange Jahre hier im Hause gedient, weißt Du; ich muß also hinüber, und gehe doch so ungern allein durch den Wald.“

Sie war bei diesen Worten aus dem Gitterpförtchen getreten und stand nun neben mir in ihrem schlichten Sommerkleide, das sie etwas in die Höhe genommen, damit das fleckenlose Weiß mit den feuchten Waldwegen nicht in Berührung komme. Um den Kopf trug sie ein schwarzes Spitzentüchlein geschlungen, und das liebliche Gesicht schaute doppelt reizend aus der düsteren Umhüllung hervor. Zum ersten Male fiel es mir auf, daß sie leidend aussah und daß ein schmerzlicher Zug sich um den hübschen rothen Mund gelegt hatte, den ich vor einem Jahre dort noch nicht bemerkt hatte. Ich erschrak und wollte, Alles vergessend, fragen, ob sie sich krank fühle. Aber ihre Augen blickten gleichgültig an mir vorüber in das Dunkel des Waldpfades, und dabei schwenkte sie mit kindischer Lust ein leichtes Körbchen im Kreise, sodaß ich das teilnehmende Wort unausgesprochen ließ.

„Unendlich schmeichelhaft, theuerste Cousine!“ gab ich zurück, „ich würde Dir nun zwar gern den weiten Weg ersparen, und in meiner Eigenschaft als junger und patientenhungeriger Arzt den Besuch am Krankenbette Dir abnehmen, aber –“

Sie zuckte ungeduldig die feinen Schultern.

„Ich habe diesen Gedanken ebenfalls gehabt und es dem Vater auch gesagt,“ versicherte sie, „aber die Alte ist wunderlich, und Doctoren, noch dazu „junge Doctoren“, haßt sie förmlich; sie würde die Tropfen aus Deiner Hand nicht nehmen, und der Vater will nun einmal, daß ich hingehe.“

„Ich bin Dir also wirklich genügend zum Schutz gegen etwaige Spitzbuben, Räuber oder was Du sonst zu fürchten scheinst? In der That, dieses Vertrauen –“

„Warum denn nicht?“ unterbrach sie mich und schickte sich zum Gehen an, „Du bist ja ein baumstarker, großer Mensch und mein Vetter dazu.“

Ich schritt hinter ihr – und wer mag mir's verdenken? – ärgerte mich über die Launen und Capricen der Mädchen im Allgemeinen und über die meiner Cousine im Besonderen; am liebsten wäre ich wieder umgekehrt, hätte mich nicht eine ganz unbezwingliche Neugier nach dem „rothen Hause“ fortgezogen.

So wanderten wir nun durch den Wald, sie immer voraus, leise ein Liedchen trillernd, als sei sie in der fröhlichsten Laune der Welt.

„Halt!“ rief sie plötzlich, „da wären wir ja beinahe daran vorübergegangen!“

„Woran?“ fragte ich.

„An dem Grabe unter der Hubertus-Eiche.“

„Wessen Grab, Cousine?“

„Ei, frage doch nicht! Du hast ja ein ganzes Actenstück in der Tasche, das die Geschichte des Todten hier erzählt. Vater, der es Dir gegeben, hat gesagt, ich soll Dich hierher führen, bevor wir in das rothe Haus gehen; nun komm!“

Sie hielt die Zweige von ein paar prächtigen dunkelgrünen Tannen aus einander und wies auf einen schmalen, kaum zu erkennenden Pfad. Ich hatte Mühe, ihr nachzukommen; denn die Büsche schlugen wie ungestüme Wellen hinter ihrer feinen Gestalt zusammen und trafen empfindlich mein Gesicht, als wollten sie mich zurückhalten von dem Betreten dieses Ortes.

Und nun befand ich mich plötzlich auf einem mäßig großen Platze, rings umstanden von dunklen Tannen; inmitten derselben aber ragte eine prächtige uralte Eiche empor und breitete ihre Aeste wie schützend über einen Hügel aus, der kunstlos aus Feldgestein zusammengefügt war, überwachsen von Waldepheu und Moos. Ringsum die tiefste Stille, die erhabenste Waldeinsamkeit; nur durch die Tannen ging ein leises Rauschen und Flüstern, und zuweilen wehte ein gelbes Blättlein von der Eiche hernieder und blieb in dem dunklen Epheu hängen.

Ich ging hinüber zu dem schmucklosen Hügel und setzte mich auf die Bank daneben, während meine Hände den Epheu zur Seite bogen, um die Inschrift einer eisernen Tafel zu lesen. Ob hier der Urgroßonkel lag, der wunderliche Alte, der mehr gefürchtet als geliebt wurde in seiner Familie und gestorben war, einsam und verlassen, wie ein verwundeter Löwe in seiner Höhle?

„Frieda, wer liegt hier begraben?“ fragte ich; denn die ehemals vergoldete Schrift war schwarz geworden und ließ sich schwer entziffern. Aber es erfolgte keine Antwort; sie stand, mir den Rücken zuwendend, und blickte durch einen Aushau in der dunklen Tannenwand zu dem herzoglichen Schloß hinüber, das aus dem grünen Laube des Schloßberges stattlich und vornehm zu uns herübersah. Die Fenster blitzten golden in dem Scheine der Herbstsonne, und die weißen Mauern leuchteten fast blendend; kaum einen Büchsenschuß weit dünkte mich die Entfernung, und doch waren wir eine halbe Stunde gewandert.

„Schönste Cousine, erhöre meine Bitte und sage mir: liegt hier der räthselhafte Jägersmann und Urgroßonkel?“

Sie wandte sich um und schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht,“ sagte sie dann kurz; ihre Augen ruhten auf dem Hügel, und plötzlich fügte sie mit weicher, völlig veränderter Stimme hinzu: „Es ist ja gleichgültig, wer hier ruht, aber nicht wahr, es ist ein köstliches Plätzchen für den letzten Schlaf? Es träumt sich so süß, wenn der Wald über uns rauscht und die Sonnenstrahlen durch die Zweige lugen.“

„Ein echtes Waidmannsgrab, Frieda; ich kann es ihm nicht verdenken, wenn er hier begraben sein wollte, statt in Reih' und Glied mit dem übrigen Menschengesindel auf einem regelrechten Kirchhof zu liegen.“ Und meinen Lieblingsdichter recitirend, begann ich:

 „In kühler Erd', bedeckt von Moos und Farren, Die oft mein Fuß beim Waidmannsgange traf Durch's Tannendickicht – also möcht' ich harren Der Ewigkeit in süßem, stillem Schlaf –“

„Hast Du die Inschrift schon gelesen?“ unterbrach das Mädchen meinen Erguß rasch. „O, bemühe Dich nicht; ich kann die Verse auswendig!“ und feierlich sprach sie:

 „So lernten wir uns kaum Für diese Welt hier kennen, Wo uns so kurz die Sonne scheint. Wir finden einst, wenn Jeder ausgeweint, Uns wieder, um uns nie zu trennen.“

Dann wandte sie sich rasch ab.

„Sehr hübsch, Frieda, aber mich dünkt, es sei just keine Grabschrift für einen Jägersmann.“

„Du hast wohl Recht,“ sagte sie und brach ein paar Zweige von dem Epheu; dann schritt sie wieder vor mir her durch die dunklen Waldespfade.

Wenn meine Mutter mit mir während der Ferien zu dem Onkel Oberförster in den Harz reiste, so war Abends im traulichen Familienkreise hin und wieder wohl die Rede gewesen von einem gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts gestorbenen Urgroßonkel. Und mochte nun meine Großmutter von ihm erzählen oder die alte Tante Rieke, die sonst die Prosa in Person war, mochte mein Onkel von ihm berichten oder der uralte Castellan des herzoglichen Schlosses, der mitunter in Schlafrock und Pantoffeln

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_594.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)