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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Auflösung entgegen. Erfolgte diese durch meine Vermittelung, so wurde das Fenster auf meine Rechnung geschrieben. Ich stemmte daher meine Füße gegen den Rücksitz, war eine halbe Stunde lang mit geschlossenen Augen auf Alles gefaßt und sagte – dem heiligen Pankratius meinen besten Dank, als er mich nach Ablauf dieser Zeit in seinen Bahnhof aufnahm.

Wo sonst das bewegteste Leben zu pulsiren pflegte, herrschte heut „Grabesstille fürchterlich“. Aus der hohen Eingangspforte, aus welcher dem gepäckreichen Reisenden sonst ein Dutzend dienstbeflissener Geister auf einmal entgegenstürzte, schritt – nachdem er der Perle Zeit gelassen, ein Weniges zu spectakeln und zu fluchen – feierlich langsam ein riesiger Polizist mit feuerrothem Cotelettenbart. Er öffnet mir den Wagenschlag, hat einen Blick des Mitleids für das invalide Fuhrwerk, einen zweiten der Mißbilligung für dessen Eigenthümer, läßt sich von diesem meinen Koffer auf die starke Schulter schieben und fragt dann, mir majestätisch voranschreitend:

„Wohin wünschen Sie zu reisen?“

„Nach W.“

Er setzt den Koffer nieder, consultirt eine enorme Taschenuhr und spricht: „Der Zug ist vor fünf Minuten abgefahren.“

„Aergerlich!“ rufe ich und wünsche von Herzen, daß ich mich der Perle fünf Minuten früher anvertraut hätte. „Also muß ich auf den nächsten warten. Bitte, seien Sie so freundlich, unterdessen ein Bischen nach meinem Gepäck zu sehen!“

Mit diesen Worten drücke ich ihm nach guter deutscher Sitte ein Geldstück in die große Hand, erschrecke aber nicht wenig, nachdem ich es gethan; denn wie ich mich plötzlich besinne, gestatten die englischen Eisenbahndirectionen nicht, daß man ihren Dienern mit Trinkgeldern lohne. Kommt dies dennoch vor, so geschieht es heimlich. Ich aber habe einem Manne des Gesetzes, dessen heilige Pflicht es ist, das Zustecken möglichst zu verhindern, etwas zugesteckt! Natürlich erwarte ich, daß er mir meinen Mammon vor die Füße werfen und mich auf der Stelle arrestiren werde, aber es erfolgt nichts Derartiges. Der Edle läßt das Geldstück ruhig in seine Tasche gleiten, legt dankend die Hand an den spitzen Hut und sagt, auf den Koffer deutend:

„Schon gut, Ma’am. Verlassen Sie sich auf mich! Aber Sie werden warten müssen –“

„Ja, leider!“

„Sie werden – es ist jetzt acht Uhr – eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – ja, sechs Stunden warten müssen.“

„Unmöglich!“

Er zuckt bedauernd die Achseln:

„Es ist eben Sonntag heute. Vor zwei Uhr führt kein Zug nach W.“

„Bitte, zeigen Sie mir den Wartesaal!“ rufe ich; denn der Schrecken ist mir in alle Glieder gefahren, und ich fühle das Bedürfniß, einen Augenblick sitzend meine Kräfte zu sammeln.

Der Wächter der Ordnung zupft verlegen an seinem rothen Backenbart.

„Es thut mir leid,“ spricht er, „aber ich habe strenge Ordre, den Wartesaal bis Punkt ein Uhr verschlossen zu halten.“

„Warum in aller Welt?“

„Wegen der Straßenjugend, Ma’am. Sehen Sie, ich bin heute den halben Tag allein hier; wie leicht könnten sich da die unnützen Rangen in die Säle schleichen und der Direction die guten, neuen Möbeln beschädigen!“

„Ist ein Hôtel in der Nähe?“

„Nein.“

„Also habe ich die Wahl, sechs Stunden lang den Perron auf und ab zu spazieren, oder in den öden Straßen herum zu wandern?“

Bei diesen in heller Verzweiflung ausgestoßenen Worten faßt den Diener der Gerechtigkeit ein menschliches Rühren. (Ich habe ihm ja auch eben erst ein Geldstück geschenkt.)

„Wenn Sie in eine Kirche gingen,“ schlägt er vor. „Es vertreibt die Zeit.“

Ja, wenn ich in eine Kirche ginge? Der Gedanke ist gar nicht übel. Aber – wo finde ich hier im hohen Norden Londons gleich eine Kirche? Und darf ich es auch wagen, ohne Gebetbuch und – was noch schlimmer ist – im Reisecostüm, ohne Capothut? – Das Gebetbuch liehe mir vielleicht eine barmherzige Seele, den runden Hut aber vergäbe mir keine. Dazu sollen die Blattern in dieser Gegend wüthen. – Nein, ich gehe lieber nicht.

„Oder,“ fährt der Menschenfreundliche fort, als er sieht, daß seine Idee keinen Anklang findet, „ich könnte Sie auch allenfalls in den Wartesaal lassen, aber unter einer Bedingung: daß Sie mir gestatten, Sie einschließen.“

„Wenn Sie weiter keine Bedenken haben,“ rufe ich unendlich erleichtert aus, „schließen Sie mich in Gottes Namen ein! Sagen Sie mir aber erst, wo ich mir ein nettes Buch kaufen kann; denn – aber freilich, heut sind ja keine Bücher zu haben.“

„Gewiß nicht,“ bestätigt er vorwurfsvoll. „Es ist Sonntag.“

„Oeffnen Sie immerhin!“ seufze ich, „so verschlafe ich die unglücklichen sechs Stunden.“

„Sollten Sie irgend etwas brauchen, sollte es Ihnen gar zu langweilig werden,“ bemerkt der Gute, im Begriff meinen Kerker hinter mir zu schließen, „so klopfen Sie nur an die Thür! Ich bin immer in der Nähe.“

Der Schlüssel dreht sich um seine Achse.

„Halt, halt!“ rufe ich. „Eben fällt mir ein: ich muß nothwendig erst nach W. telegraphiren. Um zwölf Uhr werde ich dort erwartet.“

„Das Telegraphenbureau ist am Sonntag geschlossen,“ schallt es durch das Schlüsselloch zurück.

Ich bin allein – „Gebieter über Alles, was ich überblicke“, das heißt über einen langen blank polirten Tisch, über verschiedene Ledersophas und einige Stühle. Ich mache es mir auf einem der Sophas so bequem, wie es die Beschaffenheit des Möbels erlaubt. Es ist knüppelhart, und seine Rücklehne hört da auf, wo beim normalen Menschen der Rücken anfängt. Ich versuche zu schlafen – in allen erdenklichen Positionen – und finde es unmöglich. Ich durchwühle meinen Handkoffer nach einer langweiligen Lectüre, um der Natur zu Hülfe zu kommen. Da ich aber aus verschiedenen Gründen auf dem Meere nie lese, so habe ich nur für den Nothfall ein dünnes illustrirtes Blättchen mitgenommen – mein Ein und Alles.

Wenn ich ein Bischen zum Fenster hinaussähe? Dies liegt nämlich nicht außer dem Bereich der Möglichkeit, obgleich das Fenster dicht unter der Decke angebracht ist. Ich brauche nur auf den Rücken meines Sophas zu steigen und mich auf die Zehenspitzen zu heben. Ader es ist auf die Dauer ermüdend und langweilig; denn ich erblicke nichts als Schienen, über die kein Zug fährt, und einen Perron, auf dem sich Niemand sehen läßt, nicht einmal der rothbärtige Diener der Gerechtigkeit. Ich steige von meiner Höhe herab, fange an, um den großen Tisch herum zu spazieren, bedauere dabei abwechselnd die unglücklichen Menagerielöwen und die armen Sünder in der Tretmühle und sinke nach viertelstündigem Rundlauf erschöpft und schwindelig auf mein ledernes Kanapee.

Ich versuche zum zweiten Male zu schlafen, finde es zum zweiten Male unmöglich. Will ich nicht vor Langerweile umkommen, so muß ich mich jetzt an mein Ein und mein Alles machen. Leider enthält es außer einigen älteren Modeberichten und dem Innern eines Romans, aus welchem ich nicht klug werden kann, nur noch eine Novelette, vier Seiten lang:

Auf der ersten sehen sie sich zum ersten Male, verlieben sich sterblich in einander und schwören sich unter einer Straßenlaterne ewige Treue (Notabene: sie haben Beide zusammen keinen halben Thaler im Vermögen); auf der zweiten trennt sie das grausame Schicksal in Gestalt ihrer nach einem Goldschwiegersohne angelnden Mama; auf der dritten bereinigt sie die freundliche Vorsehung in Gestalt seines zu rechter Zeit dahingeschiedenen Erbonkels; auf der vierten Seite Hochzeitsreise, Sonnenaufgang auf dem Rigi, Aussicht auf eine glückliche Zukunft. –

Es ist jetzt genau zehn Uhr; meine Hülfsmittel sind erschöpft, und mit der Langenweile stellt sich auch der Hunger ein. Ich habe heute Morgen noch keinen Bissen genossen. Freund Rothbart muß mir meinen Kerker öffnen.

Ich gehe an die Thür und klopfe. Niemand kommt. Ich klopfe lauter. Es rührt und regt sich nichts. Ich klopfe und rüttele wie ein Verzweifelter. Alles bleibt todtenstill.

Wenn er mich vergessen hätte – nach Hause gegangen wäre – mich in diesen fürchterlichen vier Wänden jämmerlich verhungern ließe! – Vergebens sucht mir mein Verstand zu beweisen, daß der Mensch in vier Stunden nicht verhungern kann; meine aufgeregte Einbildungskraft hält das Schrecklichste für möglich, und ich schüttele, klopfe, rüttele, lausche abwechselnd wohl zehn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_603.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)