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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


zu jenem Moment, wo uns der Mensch in Deutschland bereits in einer wesentlich fortgeschrittenen Cultur entgegentritt, besitzen wir fast keine einzige sichere Nachricht von ihm.

Freilich fehlt es nicht an Gelehrten, welche sich bemüht haben, diese gewaltige Kluft, wenn auch nicht auszufüllen, so doch zu verengen, indem sie annehmen, daß die Zeit der roh geschlagenen Steine, also die paläolithische Periode, sich sehr weit zurück erstreckt. Dr. Baier aus Stralsund hatte auf der nunmehr geschlossenen prähistorischen Ausstellung im Abgeordnetenhause zu Berlin unter Anderem eine Reihe geschlagener Feuersteine in schwerfälliger Form und roher Ausführung vorgeführt und sah sich veranlaßt, dabei auf die Gleichartigkeit dieser Formen mit denjenigen hinzuweisen, welche Lartet und Cristy in einer Höhle der Dordogne gefunden haben, und solchen, die Evans aus dem diluvialen Schwemmlande der Ouse und Themse mitgetheilt hat. Ein anderer Theil dieser auf Arkona und Hiddensoe gefundenen rohen Artefacte, das heißt Spuren menschlicher Bearbeitung tragenden Fundstücke, „gleicht völlig zahlreichen, aus französischen, belgischen und englischen Höhlen entnommenen paläolithischen, sowie den im alten Schwemmlande der Somme bei Amiens und Abbeville gefundenen“. Auf Grund seiner Vergleichungen und Forschungen kommt Dr. Baier zu dem Ausspruche, die Möglichkeit könne nicht bestritten werden, „daß einzelne dieser grob geschlagenen Feuersteintypen noch der Diluvialzeit angehören; jedenfalls können sie mit Sicherheit bis in die Zeit der dänischen Kjökkenmöddinger und schwedischen Küstenfunde zurückgeschoben werden“.

Die Kjökkenmöddinger! Da haben wir wieder einen neuen Ausdruck und eine neue Periode, die für einen gewissen Theil unseres prähistorischen Gebietes die „älteste“ Zeit repräsentirt. Vergebens aber würde unsere Bemühung sein, jene Epoche chronologisch genau festzustellen, in der die Strandbevölkerung der dänischen Küsten ihre riesigen Muschelhaufen, dänisch Kjökkenmöddinger, das heißt Küchenabfälle, genannt, aufthürmte. Wir sind in dieser Beziehung im Norden unseres Vaterlandes, speciell in Schleswig-Holstein, erst beim Beginn unserer Untersuchungen und dürfen uns der Hoffnung hingeben, daß noch im Laufe dieses Jahres ein in dieser Provinz gelegener Kjökkenmödding von fachkundiger Hand untersucht werden wird. Uebrigens hat die bekannte Custodin des Kieler Museums, Fräulein J. Mestorf, eine Autorität auf dem Gebiete anthropologischer Forschung, gelegentlich der prähistorischen Ausstellung darauf hingewiesen, daß sich wahrscheinlich auch auf der Insel Rügen Kjökkenmöddinger werden nachweisen lassen. Glücklicher sind wir in dieser Beziehung in der Provinz Preußen, wo sich in dem Kjökkenmödding bei Tolkemit viele Thonscherben gefunden haben.

Auch mangelt es uns im Nordosten unseres Vaterlandes nicht an einer Reihe anderer, jener entlegenen Zeit angehörender Fundstellen, welche mit dem Namen „Wohnplätze aus der Steinzeit“ bezeichnet worden sind. Nicht weniger als hundert Scherbenstellen hat man am Fuße der über zwölf Meilen langen wandernden hohen Düne der kurischen Nehrung in wenig unterbrochener Reihenfolge auf dem nun vom Sande entblößten uralten Waldboden aufgefunden und hieraus im Laufe des letzten Jahrzehnts ein recht beträchtliches Material zusammengebracht. Einige dieser alten Wohnplätze bestehen ganz aus schwarzer humoser Erde, den Scherben von unzähligen zerbrochenen Gefäßen, Knochenabfällen, Fischschuppen, Trümmern von Steininstrumenten, Knochengeräthen u. A. m. Unter den zahlreichen Steinhämmern befinden sich solche in allen Stadien der Durchbohrung; ebenso hat man eine größere Anzahl jener konischen Bohrzapfen aufgefunden, welche es wahrscheinlich machen, daß unsere Vorfahren die Bohrlöcher mit Hülfe von trockenem Sande und hohlen kurzen Hirschhorncylindern, wie dies durch den österreichischen Grafen Wurmbrand dargethan wurde, herstellten. In der Ausstellung hatte Dr. Tischler aus Königsberg ähnliche von ihm künstlich durchbohrte Steinstücke vorgeführt und dadurch bewiesen, daß jene Manipulation, zu der er nur etwa vier Stunden Zeit gebraucht hatte, nicht, wie häufig geglaubt wurde, allzu zeitraubend gewesen sein muß.

Auch nach anderer Richtung muß dem weitverbreiteten Glauben, als ob die Männer der Steinzeit zur Ausführung ihrer Arbeiten unverhältnißmäßig viel Zeit gebraucht hätten, entgegengetreten werden. Beispielsweise hat man über die Leistungsfähigkeit einer Feuersteinaxt sich oft viel zu geringe Vorstellungen gemacht. So befand sich in der Collection des Kieler Museums ein schenkeldickes Stück Baumstamm, das der dänische Kammerherr von Sehestedt auf Broholm mit einer Feuersteinaxt abgeschlagen hatte, nachdem mit derselben Axt vorher in kurzer Zeit sechsundzwanzig ebenso starke Bäume gefällt worden waren.

Das interessante Factum, daß die alten Bohrzapfen der Steinbeile aufgefunden werden und damit der Beweis geliefert ist, daß jene Werkzeuge an Ort und Stelle hergestellt worden sind, treffen wir nun noch an einer weit entlegenen Localität an, nämlich in den schweizer Pfahlbauten. Was diese Pfahlbauten selbst anbetrifft, so müssen wir uns hüten, sie für die Repräsentanten einer ganz bestimmt abgegrenzten Culturepoche zu halten. Es giebt Pfahlbauten von sehr hohem Alter, und solche, die so jung sind, daß sie zum Theil noch bis an die historische Zeit heranreichen, sodaß wir einzelne derselben noch in Beziehung bringen können zu Ueberlieferungen, welche uns die Schriftsteller des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts geben. Die Pfahlbauten sind auch nicht auf die Schweiz und Deutschland beschränkt; schon im Alterthume berichtet uns Herodot von thracischen und Strabo von italischen Pfahlbauten. Die neuere Forschung hat in manchen anderen europäischen Ländern, beispielsweise in Oesterreich, Irland etc., Pfahlbauten nachgewiesen. Auch heutigen Tages existiren noch bei vielen Völkerschaften der südlichen Erdhälfte, wie Jedermann weiß, diese Bauten. Somit haben wir es bei den Pfahlbauten lediglich mit einer bestimmten Form der Wohnung und nicht der Cultur zu thun.

Wir werden hier wieder an die oben erwähnte Rede Virchow's auf dem Anthropologen-Congreß in Constanz erinnert. Es wäre überaus thöricht, sagt er, wenn man sich heutzutage noch mit der so lange festgehaltenen Vorstellung tragen wollte: „Pfahlbau ist Pfahlbau; Pfahlbauzeit ist Pfahlbauzeit“; jeder einzelne Pfahlbau muß für sich untersucht und geprüft, er muß in seiner zeitlichen und culturhistorischen Bedeutung festgestellt werden. Dann erst dürfen wir ihn in unsere Classification einreihen und kartographisch fixiren. Man muß sich daran gewöhnen, daß die Pfahlbaucultur Europas schon in alten Zeiten so mannigfaltig war, wie sie noch heutzutage mannigfaltig ist in Afrika, Asien, Polynesien. Die Construction eines Negerpfahldorfes in Centralafrika darf man nicht als maßgebend betrachten für ein Negerdorf an der Küste von Neu-Guinea oder für ein Flußpfahldorf in Hinterindien. An allen diesen Orten giebt es Pfahlbauten, aber sie haben unter sich keinen Zusammenhang, und wir dürfen nicht etwa die Bevölkerung, welche auf dem einen wohnt, ohne weiteres als Verwandte der Pfahlbauern eines anderen Gebietes ansehen. Ethnologisch, zeitlich und culturhistorisch weit aus einander stehende Rassen haben auf dieselbe Weise ihre Wohnungen eingerichtet.

Professor Virchow unterscheidet in Mitteleuropa zwei große Gruppen von Pfahlbauten, eine südliche, zu der er die Pfahlbauten der Schweiz und Süddeutschlands rechnet, und eine nördliche, die sich durch das norddeutsche Gebiet bis nach Livland hin erstreckt. Er stellt jeden Zusammenhang zwischen beiden Gruppen in Abrede, da die nördliche einer viel späteren Zeit angehört, als die südliche. In der südlichen Gruppe sind wieder zwei durchaus verschiedene Abtheilungen zu constatiren, deren östliche die Ostschweiz, den Bodensee u. A. m. umfaßt und der reinen Steinzeit angehört, während die Pfahlbauten der Westschweiz auch Funde aus Bronze und Eisen enthalten.

Bereits in den ältesten Pfahlbauten, wie auch in den obenerwähnten Wohnstätten der kurischen Nehrung etc., documentirt es sich, daß der mühsam emporsteigende Bildungsgang unseres deutschen Volkes im Laufe langdauernder, allmählicher Erhebung von der niedrigsten Stufe der Cultur schon weit über die Zustände unbeholfener Kindheit vorgeschritten war. Nicht mehr der heimath- und wohnungslose nomadisirende Jäger, der gelegentlich in Höhlen haust, begegnet uns hier, sondern ein hoch über einer Reihe vorausgegangener tieferer Culturzustände stehender, seßhafter Mensch mit gereifter, innerer Entwickelung. Lediglich mit Hülfe von Stein und Knochen hat dieser Mensch es vermocht, den Wagen, den Kahn, den Webstuhl, den Pflug und sein ganzes Haus herzustellen, und es herrscht bereits in dieser Zeit ein geordnetes Zusammenleben in größeren Gemeinden unter Bildungszuständen, wie sie kaum durch die spätere Einführung der Metallgeräthe wesentlich gefördert wurden. Es ist das große Verdienst des Nestors der deutschen Anthropologie, des Directors vom Römisch-Germanischen Centralmuseum in Mainz, Professor L. Lindenschmit, energisch auf die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_614.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)