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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Selbstständigkeit der deutschen Culturentwickelung aus unmeßbarer Vorzeit her hingewiesen zu haben (vergl. die eben erschienenen ersten Hefte seines „Handbuchs der deutschen Alterthumskunde“). Lindenschmit ist auch ein Vertreter der Ansicht, daß die deutschen Stämme nicht aus Asien eingewandert seien, sondern von Uranfang sich auf deutschem Boden entwickelt haben; deshalb legt er eine „ernstliche Verwahrung gegen die indogermanische Hypothese“ ein.

Die südliche Gruppe der mitteleuropäischen Pfahlbauten gehört wesentlich derjenigen Zeit an, welche man im Gegensatz zu der älteren, paläolithischen Zeit die neolithische, die jüngere, die Zeit des polirten Steins genannt hat. Diese Epoche repräsentirt die eigentliche Entwickelung des deutschen Volkes; aus ihr finden wir in vielen Theilen Deutschlands große schöne Ueberreste. Von den süddeutschen Pfahlbauten seien hier nur zwei erwähnt: Zunächst der „Palissadenbau“ im Steinhäuserried, welchen Herr Oberförster Frank von Schussenried im Jahre 1875 entdeckt und dem er zahlreiche Knochenstrumente, ornamentirte Urnen, Knochen, Steinbeile etc. entnommen hat. Dieser eigenthümliche Bau reicht in eine ziemlich frühe Zeit hinauf, gleichzeitig aber war er sehr lange hindurch bewohnt; denn er wurde immer wieder auf's Neue überbaut, als der Wasserspiegel, über dem er sich erhob, allmählich höher gestiegen war. Nicht weniger als neun über einander liegende Fußböden, welche durch Thonlagen gestützt waren, besitzt dieser sogenannte Palissadenbau. Der zweite Pfahlbau, den wir hervorheben müssen, ist derjenige auf der Roseninsel im Starenberger See. Dieser bereits im Jahre 1864 durch den berühmten schweizer Gelehrten Professor Desor entdeckte Pfahlbau ist durch Professor W. Wagner und Landrichter von Schab in München ausgegraben worden. Die 564 Artefacte, welche in diesem Pfahlbau aufgefunden sind, geben einen Beweis, daß er während einer sehr langen Zeit, und zwar von jener Periode an, wo die Menschen nur den Gebrauch der Steinwaffen kannten, bis zur römischen Besetzung der Gegend und selbst bis zum Mittelalter hin bewohnt gewesen sein muß. Wir sind im Stande, uns fast die gesammte Lebensweise jener dort seßhaften Bevölkerung aus den Fundstücken durch viele Generationen hindurch zu veranschaulichen, die Zähmung der Hausthiere, wie Rind, Schwein, Schaf, Pferd, Hund und Ziege, zu constatiren und die Jagd auf Hirsch, Wildschwein, Reh, Bär, Biber, Fuchs, Ur, Wisent, Elen, Gemse, Steinbock, Hase, Katze, Wolf etc. als eine neben Ackerbau und Handel von den Einwohnern dieser Localität betriebene Beschäftigung zu bestätigen.

Eine andere Form der Wohnung, als die Pfahlbauten, bildeten in prähistorischer Zeit die Höhlenwohnungen. Aber die Benutzung der natürlichen Höhlen durch den Menschen ist nicht ausschließlich auf die diluviale Urzeit beschränkt. Professor Johannes Ranke aus München legte auf dem Berliner Anthropologen-Congreß einige neue Funde aus oberfränkischen Höhlen vor, wodurch unsere bisherigen Anschauungen über die Cultur der Höhlenbewohner in jenen Gegenden wesentlich verändert werden müssen. Im feuersteinreichen Norden, überhaupt in den Feuersteindistricten scheint sich an die paläolithische die neolithische Zeit unmittelbar anzuschließen. In Süddeutschland konnte man den Pfahlbautenfunden bisher noch keine Landfunde an die Seite stellen, die sie ergänzten. Die neuen Funde in den Höhlen der fränkischen Schweiz sind geeignet, diese Lücke auszufüllen. Man hat daselbst namentlich Knochenschnitzereien in einer solchen Fülle entdeckt, wie wir sie bisher aus Mitteldeutschland noch nicht kannten. Diese Knocheninstrumente charakterisiren sich theils als Waffen theils als technische Werkzeuge. Die fränkischen Höhlenfunde zerfallen in Lanzenspitzen, Harpunen, Pfeilspitzen, Netznadeln, Perlenketten etc. aus Knochen, in Spinnwirtel aus Thon und Knochen, in geschliffene Steinwaffen, Steininstrumente und ornamentale Töpferwaaren. So erschließen uns diese Felsenwohnungen Oberfrankens ein Glied der Entwickelungsgeschichte des Menschen, welches mit der Culturperiode der Pfahlbauten ungefähr auf gleicher Stufe steht.

Neben den Wohnungen sind es besonders die Grabstätten der vorgeschichtlichen Zeit, welche uns über die prähistorischen Bewohner in Deutschland Auskunft geben. Zu den ältesten Fundstücken dieser Art gehören die Reliquien des Gräberfeldes am Hinkelstein bei Monsheim in Rheinhessen. Es vereinigen sich hier eine Menge interessanter Umstände, um das hohe Alter zu beweisen. Beim Ausroden eines Feldes kamen in der Erde eine Menge flacher Gräber zum Vorschein; der Zahn der Zeit hatte aber die menschlichen Reste bereits sehr weit vertilgt; die Körpertheile waren in solchem Grade zerfallen und verwittert, daß sie nur in einzelnen Bruchstücken zu erkennen waren; bei vielen zeigten sich selbst die festeren Knochentheile nur in formlosen, auffallend leichten Fragmenten; die Stelle des Schädels wurde nur durch einige Zähne und Stücke der Kinnlade bemerkbar. Die Gräber enthielten kein Metall; dagegen wurden durchbohrte und flache Steinbeile aus Kieselschiefer, kleine spahnförmige Feuersteinmesser und einige Halsketten aus kreisrunden Stückchen von Muschelschalen sowie von durchbohrten Zähnen, einfache Handmühlen aus rothem Sandstein und eine Anzahl mit der Hand geformter ornamentirter Thongefäße gefunden. Nach Professor Lindenschmit ist die Entstehung dieser Gräber etwa um's Jahr 500 vor Christi Geburt zu setzen.

Einer anderen schon zur Steinzeit gebräuchlichen Bestattungsart verdanken die bekannten, weit verbreiteten Hünengräber ihre Entstehung. Sie sind bereits in sehr früher Zeit die Beweise einer pietätvollen Erinnerung an die Todten, deren Ueberreste inmitten der oft hoch aufgethürmten Erdmassen, in deren Centrum sich gewöhnlich eine Steinkammer befand, nebst entsprechenden Beigaben aufbewahrt wurden.

Ein in sich abgeschlossener Culturkreis umfaßte, wie von vielen Seiten angenommen wird, schon seit der Steinzeit jenes nordische Gebiet, das sich von Süd-Schweden und Dänemark abwärts durch Schleswig-Holstein, Rügen, Mecklenburg bis nach Brandenburg und in die Provinz Sachsen hinein erstreckt. Hier finden wir eine sehr große technische Ausbildung in der Behandlung des Steinmaterials, namentlich des Feuersteins, gleichzeitig aber auch eine ganz vorzügliche Kunstfertigkeit in der Keramik. Es liegt nicht im Sinne unserer Besprechung, detaillirt auf diese Verhältnisse einzugehen; nur sei darauf aufmerksam gemacht, daß der natürliche Reichthum an Feuerstein, den dieses Gebiet besaß, schon frühzeitig dahin führen mußte, daß sich namentlich auf der Insel Rügen eine große Anzahl Steinkünstler mit ihren Werkstätten etablirten und daß von hier aus ein bedeutender Export fertiger Waare aus Feuerstein weithin getrieben wurde.

Einer der fleißigsten und glücklichsten Sammler auf Rügen, Landgerichtsrath Rosenberg aus Berlin, hat aus solchen prähistorischen Wertstätten viele tausend bearbeitete Feuersteine zu einer der umfangreichsten Privatsammlungen Deutschlands vereinigt. Auf Grund seines Studiums der Localitäten ist er zu der Annahme geneigt, daß schon in sehr alter Zeit das Princip der Arbeitstheilung zur Geltung gekommen ist, indem er auf einzelnen Werkstellen vorwiegend Feuerstein-Streitäxte, auf anderen prismatische Messer und wiederum auf anderen fast ausschließlich Schleudersteine gefunden.

Gehen wir von diesem nordische Culturkreise nach Süden, so tritt uns in der Lausitz und dem Spreewalde ein neues prähistorisches Gebiet entgegen, das bis zur Völkerwanderung durch eine germanische, späterhin durch slavische Bevölkerung eingenommen war. Ob einst vor den Germanen andere Nationen hier ihre Wohnsitze aufgesucht haben, ist noch unaufgeklärt. In der Lausitz sind es überwiegend große, zum Theil weit ausgedehnte Gräberfelder und zahlreiche Schanzen oder Burgwälle, welche unser Interesse in Anspruch nehmen. Bis vor Kurzem war man geneigt, die Gräberfelder wendische und die Burgwälle germanische zu nennen, Professor Virchow hat aber durch eine Reihe von Untersuchungen den Nachweis geführt, daß es sich im Wesentlichen gerade umgekehrt verhält und daß ein großer, vielleicht der größte Theil der Burgwälle slavisch und sicher die Mehrzahl aller Gräberfelder germanisch oder vorgermanisch ist. Dieser Nachweis stützt sich in erster Linie auf das Studium bekannter slavischer Ansiedelungen, Festungswerke und Tempelplätze, wie solche namentlich in Arkona und Garz auf Rügen, in Wollin – dem alte Julin – in Alt-Lübeck noch in historischer Zeit bestanden, sowie der Mecklenburgischen Burgwälle. Somit läßt sich die Grenze zwischen der Prähistorie und Historie auf deutschem Gebiete durch verschiedene Jahrhunderte hindurch beobachten, in Südwestdeutschland beginnend und langsam im Allgemeinen nach Norden und Osten fortschreitend.

Bis in verhältnißmäßig sehr späte Zeit finden wir den Gebrauch der Steinwaffen und Steinwerkzeuge bei den deutschen Stämmen verbreitet, selbst noch lange, nachdem die Anwendung der Metalle bekannt geworden war. Wie es sich hiermit verhielt und wie die frühzeitige, bald schwächere, bald stärkere Einwirkung der alten südeuropäischen Culturwelt den Bildungsgang unseres Volkes hob, darüber werden wir in unserm Schlußartikel das Nähere mittheilen.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 615. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_615.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)