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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


die Dame theilnehmend, und erfaßte wieder Carmen 's Hand, dieselbe herzlich drückend. Sie empfand so große Sympathie für das Mädchen, daß sie plötzlich noch hinzufügte: „Da Sie wissen, was Getrenntsein bedeutet, wollen Sie sich da Adele's ein wenig annehmen? Vielleicht wird sie sich im Anfang nicht gleich in das neue Leben zu finden wissen.“

„Von Herzen gern, wenn Ihr Töchterchen Vertrauen zu mir haben kann,“ antwortete Carmen froh bewegt.

Da ertönte laut ein Glockenschlag durch die Stille des Hauses, das Zeichen zum Mittagsmahle gebend. Die Mädchen erhoben sich sofort von ihren Plätzen, und Frau von Trautenau verabschiedete sich von Schwester Agathe, die Tochter jetzt noch einmal mit sich nehmend. Nachdem die Gäste gegangen waren, verließen auch die Mädchen das Zimmer, als aber Carmen an Schwester Agathe vorüberschritt, legte diese die Hand auf deren Schulter und sagte ernst, aber nicht unfreundlich:

„Liebe Schwester, ich möchte mit Dir sprechen – komm heute Abend auf mein Zimmer, wenn Du vom Liebesmahl, das wir diesen Nachmittag feiern, wieder heimgekehrt bist!“

Carmen blickte ruhig in die ernsten Augen der Sprechenden, in denen sie recht gut heimliche Unzufriedenheit las.

„Ja, Schwester Agathe, ich werde kommen.“ – – –

Es kann kaum etwas Einfacheres geben, als das Zimmer Schwester Agathe's. Als wolle sie den Anderen an Einfachheit vorangehen, ist hier alles vermieden, was über das Nothwendige hinausgeht. Drei Stühle, ein Tisch, ein altväterisches Sopha, ein Schreibpult und ein Schrank ist das kärgliche Mobiliar; die Wände sind nur weiß getüncht, und über die Fenster ist eine kurze Krause weißer Gardinen gesteckt. Ueber dem steifbeinigen, geradlehnigen Sopha mit verblichenem Zitzüberzug hängt als einziger Schmuck, der aber nicht als solcher gelten kann, die gedruckte Losung des heutigen Tages. Diese „Losungen“ sind biblische Sprüche, die, jedesmal auf ein Jahr voraus für jeden Tag bestimmt und gedruckt, an alle Glieder der Brüdergemeinen vertheilt werden, damit Jeder den Tag hindurch über einen Spruch nachdenke und sein Thun und Lassen nach ihm richte. Heute war es der Spruch: „Weide Du Dein Volk mit Deinem Stabe, die Heerde Deines Erbtheils, wie vor Alters!“ Mich. 7, 14.

Schwester Agathe saß an einem der beiden Fenster, und bei ihr, den Stuhl vor der freundlich hereinscheinenden Nachmittagssonne in den Schatten gerückt, saß Bruder Jonathan Fricke, in seiner ruhigen, überlegten Weise zu ihr sprechend.

„Mir scheint, liebe Schwester, daß die Gesunde Dir heute mehr Sorge macht, als die Kranken.“

„Weil hier schwerer zu helfen ist, als bei diesen, und obschon Du um der Kranken wegen hergekommen bist, lieber Bruder, möchte ich Dir, als dem Freund ihres Vaters, meine Sorge um sie anvertrauen,“ sagte bekümmert Agathe.

„Du klagst über Carmen's weltlichen Sinn, aber solltest Du, liebe Schwester, nicht milde bedenken, daß die ersten Eindrücke des Kindes in ihr noch fortklingen mögen, und sie deshalb entschuldigen?“ sprach er im Tone frommer Nachsicht. „Bruder Mauer war ja aus der Mission hinweg auf seine Plantage gezogen, wo, obgleich er sich auch hier noch zu der Brüdergemeine hielt, doch nicht viel von dem ernsten Leben in unserem Heiland zu verspüren war; denn seine dritte Frau, eine heißblütige Creolin, konnte nicht wirklich als seine Gehülfin im christlichen Hause gelten. Sie schwang sich gern in den Sattel ihres Pferdes und jagte über die Savannen dahin, sie sang zur Mandoline ihre glühenden spanischen Lieder; ihr Fuß tanzte flüchtig, als berühre er kaum den Boden, über die Matten des Estrichs hin, wenn sie, gewandt wie eine Lacerte, aus der Hängematte auf die Veranda schlüpfte und ihre alte Schwarze am Abend wieder einmal das oft verbotene Tambourin schlug. Sie war zu schön, wenn sie ritt, wenn sie tanzte, als daß er je ernstlich sie hätte daran verhindern mögen. Zu schön!“ wiederholte er, immer lebhafter werdend. „Ich habe es ja mit angesehen, wenn ich hinauskam, als Arzt zu helfen, wo es in der Hacienda oder auf der Plantage noth that. Und da schwebte die kleine Carmen der zärtlich geliebten Mutter nach, wie der Zipfel ihres Kleides, und wenn sie Jener nachahmte, so viel sie konnte, tanzte und sang nach spanischer Art, ist das zu verwundern? Es war ja doch so schön und zu verlockend.“

Er schwieg plötzlich und senkte die Augen, als werde er sich seiner Lebhaftigkeit bewußt, da der Blick der Schwester verwundert an ihm hing. Dann holte er tief Athem; seine Finger stäubten wieder an dem sauberen Anzug herunter, und er fuhr in alter, gelassener Weise fort:

„Es war sündhaft für ein Glied der Gemeine, ja, und Bruder Mauer hätte dem wehren sollen; ich habe es ihm oft genug mahnend in die Seele gerufen. Aber er vermochte es nicht über sich. Er war in der Liebe zu diesem Weibe wie in Sünde verloren. Und darum war es zu seinem Heile und zu dem Carmen's, daß die Spanierin starb und das Kind hierher in die Zucht der Gemeine kam, auf daß sie für ein kirchlich Leben gewonnen werde,“ schloß er, die Augen mit demüthig frommem Blick zu Agathen aufschlagend.

„Warst Du dort, als die Frau starb?“ fragte diese.

„Nein. Sie ist vor ungefähr zehn Jahren gestorben, und ich hatte schon mehrere Jahre früher Jamaica verlassen, da ich das Klima nicht länger aushielt. Ich ging nach dem Norden der Vereinigten Staaten. Von Bethlehem, wo ich eine längere Reihe von Jahren blieb, zog mich dann die alte Welt zurück, und als ich hier ankam, war Carmen schon da, und ich hörte nun erst, daß auch Bruder Mauer Jamaica verlassen habe, um nach Ostindien zu gehen.“

„Jawohl, der Herr hatte ihn zu seinem Werkzeug berufen,“ fiel Schwester Agathe ein. „Es war wunderbar, daß so plötzlich der heiße Drang über ihn kam, als Heidenbekehrer Schafe für des Heilands Heerde zu sammeln. Und rastlos hat er für die Kirche unter den Heiden gearbeitet – plötzlich blieb alle Kunde über ihn aus. Und sage selbst, Bruder Jonathan, ist es nicht sonderbar, daß er nie wieder Geldmittel verlangt hat, da er doch nur wenig für seinen frommen Zweck mitnahm und das große Vermögen, welches er aus dem Verkauf seines Besitzthums in Jamaica gelöst hatte, in der Bank unseres Landes niederlegte?“

„Hat er denn davon nichts für Carmen bestimmt gehabt?“

„Das wohl, wir bekommen einen gewissen Theil der Einkünfte aus dem Vermögen für ihre Erhaltung und Erziehung regelmäßig ausgezahlt,“ entgegnete Agathe, „aber es ist das doch verhältnißmäßig nicht viel. Wie muß inzwischen dieses Vermögen gewachsen sein! Carmen ist eine reiche Erbin, wenn ihr Vater wirklich todt sein sollte – eine Verlockung mehr für ihren weltlichen Sinn! Daß auch gar nichts über Bruder Mauer zu erfahren ist! Ich glaube gewiß, er ist todt, in der frommen Arbeit für seines Herrn Sache gestorben.“

Ein eigenthümliches Licht war, während sie sprach, in Jonathan's Augen aufgeleuchtet, und er hob den Kopf jäh empor. Aber, als erschrecke er selbst darüber, senkte er ihn sofort wieder in die gewohnte gebeugte Haltung herab, und da jetzt Agathe schwieg, sagte er mit dem Anklang eines Seufzers:

„Er war mein Freund.“

Wieder eine Pause; er schien zu überlegen.

„Ja, fast scheint es, daß wir ihn verloren haben,“ fuhr er fort, „und dann ist Schwester Carmen eine Waise. Das arme Kind! Um so mehr ertrage sie mit Geduld, liebe Schwester, und klingt es noch immer von ehedem in ihr nach und reißt sie's zuweilen fort, über das hinweg, was sich jetzt für sie geziemt, so gieb ihr einen Führer zur Seite, der sie den rechten Weg zu ihrem Heil geleite!“

„Wie bist Du doch noch immer der treue Freund des Vaters, daß Du Dich stets so liebevoll und fürsorglich des Kindes annimmst!“ sagte Agathe gerührt. „Glaube mir nur, lieber Bruder, auch ich habe das Mädchen von Herzen lieb und betrübe mich deshalb um so mehr, wenn ich fürchten muß, daß ihre Natur sie auf Irrwege drängt. Wen aber soll ich ihr als Führer geben, wenn nicht der Heiland es ist, den ich ihr immer zu Gemüthe führe?“

„Darum eben soll sie einen Gehülfen beständig zur Seite haben, der sie an ihren frommen Beruf erinnert,“ entgegnete Jonathan sehr ernst. „Sie wird in nächster Woche achtzehn Jahr, tritt nun in die Reihe der erwachsenen Schwestern und ist alt genug, eine Heirath zu schließen. Ich denke, das soll das Beste für sie sein. Suche ihr einen Führer, Schwester Agathe, und kennst Du keinen besseren für sie, und findet ihr, Du und die Aeltestenversammlung, es für gut, so will ich, um des Vaters willen, meinen ledigen Stand aufgeben, die Tochter in christlicher Ehe zu mir nehmen und treulich ihr Gatte und Führer werden zu des Herrn Preis.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 666. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_666.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)