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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


der ihn um mehr denn Kopfeslänge überragte. Da beugte sich Alexander schnell herab, drückte einen Kuß auf des Mannes Wange und sagte herzlich:

„Leben Sie wohl und recht glücklich! Glauben Sie mir, ich bewundere aufrichtig Ihren Muth!“

Der Mann blickte ihn voll Erstaunen an und stammelte: „Ich danke, lieber Herr.“ Dann ging er demüthig weiter.

In Carmen's Augen aber lag, als Alexander wieder aufblickte, ein sanfter, feuchter Schimmer und derselbe Ausdruck der Abbitte, mit dem sie ihm heute Morgen gedankt.

„Wie wunderbar schön ist doch dieses Mädchen!“ dachte Alexander. „Wie viel selbstständiger, freier Geist spricht aus diesen Augen, wie viel Anmuth schwebt um ihren lieblichen Mund! Sie ist wie ein leuchtender Stern unter diesen stillen, sanften Lichtern; als habe sie ihre Bahn am Himmel verlassen und auf die Erde sich verirrt, so wenig paßt sie in die einengenden Kreise, in denen sie sich hier bewegt. Ob sie sich darin wohl und heimisch fühlen kann? Ein freier Geist, der seine eigenen Bahnen beschreibt, kann er in dieses aufgezwungene Formenwesen sich einengen lassen und sich fügen? Nein, sie wehrt sich dagegen, das habe ich heute Morgen gesehen – aber wird sie nicht endlich doch werden wie die Anderen und still beglückt an der Seite eines Mannes, wie Bruder Daniel, hinleben?“

Der Rundgang des scheidenden Bruders war beendet; nach gemeinsamem Gebet und dem Segen des Presbyters verließen die Versammelten den Betsaal wieder.

Jetzt war auch die Zeit des Scheidens von Adelen für Frau von Trautenau und ihre Söhne gekommen. Wie viele Thränen flossen bei diesem Abschied! – –

Es war inzwischen Abend geworden. Die Lampe brannte auf Schwester Agathe's Tisch; da klopfte es an die Thür, und Carmen trat ein. Sie zauderte eine Weile auf der Schwelle, da sie die Chorälteste lesend fand, doch diese hob alsbald die Blicke von ihrem Buche auf, und das Mädchen erkennend, nahm sie die Brille von den Augen hinweg, legte sie zwischen die Blätter, schloß das Buch und sagte freundlich:

„Komm nur näher, liebe Schwester! Du störst mich nicht; ich las nur, während ich Deiner harrte.“

Sie zog einen Stuhl zu sich heran, Carmen aber schob ihn zurück, und neben der Chorführerin niederknieend, sagte sie:

„Nein, Schwester Agathe, laß mich lieber so hören, was Du mir zu sagen hast; denn Du willst mich schelten – ich weiß es.“

Agathe blickte gütig auf das junge Mädchen.

„Carmen, glaubst Du, daß ich Dich lieb habe?“ fragte sie.

„Gewiß, mehr als sonst Jemand hier,“ entgegnete sie schnell.

„Dann weißt Du auch, daß es Liebe ist, die sich betrübt, wenn ich unzufrieden mit Dir sein muß,“ fuhr Agathe fort. „Warum richtest Du Deine Gedanken immer auf weltliche Dinge und lässest Dich von der Eitelkeit verlocken, anstatt daß Du an den Heiland denkst und darin Deine Person gering achtest?“

„Du zürnst mir, Schwester Agathe, weil ich heute Morgen nicht gleich kundgab, von wie weit her in der Welt ich doch bin. Das ist wahrlich nicht so schlimm,“ rief Carmen lebhaft.

Das würdevolle Gesicht der Chorältesten verfinsterte sich, und ein strenger Blick traf die Knieende.

„Ist denn die Losung des heutigen Tages nicht mit Dir gegangen, wie sie es sollte?“ mahnte sie. „Wie heißt sie doch?“

Carmen erröthete bis an die Schläfe, wo die schwarzen Löckchen sich unter der Haube hervordrängten. Sie besann sich, aber sie wußte wirklich im Augenblick den Spruch nicht zu nennen. Es war ja heute so Vieles durch ihre Gedanken gezogen, Neues ihr entgegengetreten, wo sonst der Tag so gleichförmig und still dahinging.

Schwester Agathe wartete geduldig, daß Carmen's Gedanken sich sammeln möchten; endlich, als der Spruch sich doch nicht in dem widerspenstigen Köpfchen finden wollte, sagte sie:

„Geh, hole die Losung her!“

Doch jetzt, als die Augen des Mädchens nach dem bekannten Platz der Losung über dem alten steifbeinigen Sopha hinflogen, kehrten auch die Gedanken auf den rechten Fleck zurück: sie erinnerte sich des Spruches und sagte ihn schnell her.

„Weide Du Dein Volk mit Deinem Stabe!“ wiederholte nachdrucksvoll Agathe. „Hast Du bedacht, liebe Schwester, was das bedeutet? Dein Volk, das heißt: die welche Dir angehören; mit Deinem Stabe, das heißt: mit der Stütze Deines Willens. Carmen, wie kann der Heiland Dich mit seinem Stabe leiten, wenn Dein eigner Wille sich nicht unter den eines Anderen beugen will und die Eitelkeit Dich regiert?“

Carmen hatte in ihrer knieenden Stellung die Ellenbogen auf Schwester Agathe's Schooß gestemmt und den Kopf auf ihre Hände gestützt; ihre Augen sahen nachdenklich zu der Sprechenden auf, als sinne sie über das, was jene sagte.

„Eitelkeit nennst Du das,“ sprach sie erregt, „und zürnst mir darum, weil ich Fremden nicht gleich erzählen wollte, wonach sie doch gar nicht verlangt und was ihnen ganz gleichgültig, ja lächerlich war, da man es ihnen vorerzählte? O Schwester Agathe, ist es denn nothwendig, daß wir uns zum Gespött der Welt hergeben? Damit wird Gott doch nicht gedient. Und wenn Du über meine Eitelkeit klagst, ist es denn nicht auch eine solche, die Euch dazu verlockt, mit unseren entfernten Geburtsstätten wichtig zu thun? Wollt Ihr damit nicht zeigen, wie Ihr die Fühlfäden überall hin in die Welt gestreckt? Das ist denn doch auch Eitelkeit bei all Eurer Demuth.“

Betroffen blickte Agathe nieder und schwieg einen Augenblick. Dann raffte sie sich auf und sagte streng:

„Vermenge Nichtigkeiten nicht mit dem Ernsten! Das, was jedes schwache Glied der Gemeine zur Verbreitung von des Herrn Kirche thut, geschieht zu seinem Preis und nicht zu dem eignen; wir rühmen uns um des Heilands willen, nicht um uns arme Sterbliche. Was thut es uns, wenn die Welt unser spottet? Sind wir mit dem Heiland und er mit uns, ficht uns die Welt nichts an! Gehe in Dich, liebe Schwester, auf daß Du also das Heil Deiner Seele nicht verlierest! Nimm Dir einen Helfer zur Seite, der Deinen Fuß leitet, wenn er straucheln will! Und siehe, es bietet sich Dir einer an, wie Du treuer und fester keinen finden kannst. Bruder Jonathan Fricke, der treue Freund Deines Vaters, ehrt Dich hoch, indem er Dich zur Gefährtin nehmen will. Er hat mir heute seine Absicht darüber bekundet, und die Aeltesten, mit denen ich darüber gesprochen habe, geben ihre Zustimmung zu diesem Bunde.“

Carmen hatte todtenbleich, mit weit geöffneten Augen, die Worte Agathe's angehört; als diese jetzt schwieg, sprang sie empor und sich von ihr hinwegkehrend, stieß sie rauh und heftig heraus:

„Ich aber will ihn nicht zum Manne haben.“

(Fortsetzung folgt.)




Land und Leute.
Nr. 43. Kufstein und seine Umgebung.

Kufstein ist eine frühere Landesfeste und zugleich ein feines, nahrhaftes Städtchen in der Grafschaft Tirol. Die Feste liegt auf einem freistehenden Felsen, den im Sommer viele grüne Büsche umflattern, und besteht aus einem mächtigen runden Thurme und einem langen Hause, in welchem etliche hundert Mann Besatzung lagern. In den Schießscharten schlummern einige Geschütze. Von dieser Festung giebt nun unser Bild (5) einen ganz guten Begriff, aber von dem Städtchen, das ihr zu Füßen liegt, läßt es nichts bemerken. Letzteres ist indessen für den germanischen Wanderer viel wichtiger, da es ihm freundliche Aufnahme und treffliche Verpflegung bietet, was jene selbstverständlich nicht gewähren kann. Das Städtchen erscheint zwar an Umfang nicht bedeutend, aber in seinem Aussehen so stattlich und vornehm, daß ihm das Land Tirol in diesem Stücke wohl kein zweites an die Seite stellen könnte, wenn man, wie sich von selbst versteht, die beiden Hauptstädte Innsbruck und Trient wegdenkt.

Wie uns die Landkarten und der Augenschein belehren, liegt dasselbe an dem mächtigen Innstrome, welcher stolz vorbeirauscht. Auf dessen linkem Ufer breiten sich die weitläufigen Gebäude des Bahnhofs aus, und ist hier immer viel Leben und Verkehr. Mehr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 668. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_668.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)