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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

No. 45.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.




Schwester Carmen.
Aus dem Leben einer deutschen Herrnhuter-Colonie.
Von M. Corvus.
(Fortsetzung.)


Bruder Mauer schwieg einen Augenblick, als suchte er in seinem Gedächtnisse die halb erblichenen Farben längst vergangener Ereignisse neu zu beleben und ihre im Nebel der Zeit verschwommenen Umrisse klarer und frischer zu gestalten.

„Vor dreißig Jahren, mein Kind,“ sagte er endlich, „bin ich mit meiner ersten Frau von hier fortgezogen, um den Leinwandhandel in Jamaica zu betreiben, wo die Brüder verschiedene Missionen begründet hatten. Wir kamen im Mai dort an und gewöhnten uns schnell ein – das Land ist ja wunderbar herrlich, aber nach der Regenzeit im Herbst, als der feuchte Boden seine Miasmen in der großen Wärme ausdampfte, befiel uns Beide das Fieber. Mein kräftiger Körper überwand die Krankheit ziemlich schnell, aber meine arme, zarte kleine Frau erlag ihr nur zu bald. Ich war nun zwei Jahre lang Wittwer und führte ein einsames Leben in harter Arbeit. Am liebsten wäre ich heimgekehrt nach Europa, aber das einmal begonnene Geschäft war nicht gleich wieder aufzugeben; es würde nur mit großen Verlusten haben geschehen können. So schrieb ich denn heim, daß ich eine Gefährtin bedürfe und sie eine solche mir senden möchten. Ich nannte zwei der Schwestern, die ich in der Heimath gern gehabt hatte, ob vielleicht eine von diesen mir folgen wolle, oder sonst eine andere. Aber die eine der Genannten war gestorben, die andere inzwischen schon verheirathet; so ließen die Schwestern das Loos darüber bestimmen, wer mir angehören solle – es traf auf Schwester Julie.

Als die neue Lebensgefährtin bei mir ankam, erschrak ich; sie war sehr häßlich von Gesicht und hatte eine ganz mißgeformte Gestalt. Trotz meines lebhaften Schönheitsgefühls bezwang ich mich und hoffte, daß sie um so schöner von Gemüth sein werde. Doch sie hatte eine stumpfe, starre Seele, aus der kein Ton hervorzulocken war, welcher zu der meinen gestimmt hätte. Sie betete wohl eifrig und arbeitete fleißig, alles genau, wie es uns vorgeschrieben ist, sie dachte aber nicht über das nüchterne Werk ihrer Hände hinaus, und wenn ihre Lippen nicht beteten, war sie stumm und verdrossen, mißtrauisch und geizig. Beinahe acht Jahre hatte ich unter wachsender Abneigung mit ihr zusammen gelebt: da wollte es das Unglück, daß ein Geschäftsfreund auf Jamaica, der mir viel schuldete, starb, daß seine Geschäfte sich als sehr zerrüttet auswiesen und daß ich für meine Forderung seine Plantage annehmen mußte. Diese befand sich in einem heruntergekommenen Zustande, und damit ich das Meinige nicht verliere, entschloß ich mich, einem Geschäftsführer meinen Handel in der Mission zu übergeben und mit meiner Frau auf die Plantage hinaus zu ziehen, und – da kam das Verhängniß über mich, und in meine verdüsterte Seele, in die trostlose Leere meines Gemüthslebens fiel der Lichtschein einer großen Empfindung.

Ein Neger war von der Plantage eines Spaniers, die zwei Stunden von der meinigen entfernt lag, geflohen und Schutz suchend zu mir gekommen – die Sclaven wußten, daß meine Schwarzen freie Arbeiter seien, und das lockte die Unglücklichen an. Don Manuel war keiner von den harten Herren, aber der Neger hatte sich vergangen und fürchtete nun die Heimkehr; so entschloß ich mich, hinüber zu reiten und seinetwegen mit Don Manuel selbst zu verhandeln. Als ich die Hacienda des Spaniers erreichte, sah ich unter den Palmen in einer Hängematte eine schlanke, zarte weibliche Gestalt in weißem Gewande ruhen; sie hatte die Arme unter den Kopf geschlagen, und die zurückfallenden Spitzen der weiten Aermel ließen mich die schöne Form frei erblicken. Ein Stampfen meines Pferdes schreckte sie auf; sie glitt anmuthig aus der Hängematte und sah erröthend und erstaunt den Fremdling an; denn sie hatte noch niemals einen blonden Mann gesehen. Sie war fast noch ein Kind, erst fünfzehn Jahre alt, aber das schönste, lieblichste Gebilde, das meine Augen je erschaut. Es war Inez, Deine Mutter.

Sie führte mich zu ihrem Vater, und während ich mit ihm verhandelte, sah ich sie an der Veranda die Pfauen füttern und ein niedliches Aeffchen liebkosen; ich konnte nicht die Augen von ihr wenden – jede ihrer Stellungen war wie diejenige eines Kunstgebildes; ich konnte das Ohr nicht von ihr lenken – jedes ihrer Worte war Musik. Ich war schon damals des Spanischen mächtig, und wir redeten nun in dieser Sprache. Als ich dann fortritt, sah ich Inez unter den Palmen lehnen und ihre weiße Kinderhand mir nachwinken, und als ich nach einer Strecke mich wieder umschaute, erblickte ich ihre schlanke Gestalt noch immer dort stehen.“

Mauer hielt ergriffen in seiner Erzählung inne. Vor der Seele des alten Mannes stieg das Einst mit seiner Herrlichkeit auf, und die süße Erinnerung überwältigte ihn. Carmen hatte ihm gespannt zugehört und über dem, was er von der Mutter erzählt, ganz vergessen, daß sie doch Unheilvolles hören solle. Mit glücklichem Lächeln sah sie auf den Vater und wartete mit Ungeduld, daß er fortfahre. Draußen strömte noch immer der Regen hernieder, und das Gewitter brach mit erneuter Kraft immer wieder aus. –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 729. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_729.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)