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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„Wie doch das Gewitter tobt!“ begann Mauer wieder, „und dennoch ist es nichts gegen das auf den westindischen Inseln. Kannst Du Dich dessen noch erinnern, Carmen? Sieh, es war auch im September, einige Wochen nachdem ich bei Don Manuel gewesen war; die Seewinde hatten aufgehört zu wehen, und wir hatten eine wahrhaft erstickende Hitze. Seit vielen Tagen schon war der Himmel verhangen; Wolken thürmten sich, immer schwärzer werdend, in ungeheuerer Menge über uns auf; die elektrischen Massen durchzuckten sie tausendfältig, und ein immerwährendes dumpfes Grollen dröhnte gefahrdrohend aus ihnen hervor – alles das zeigte an, daß die große Regenzeit nahe, und wer auf den Inseln gelebt, weiß, daß sie gewöhnlich mit fürchterlich sich entladendem Gewitter und heftigem Orkane beginnt. Ich war in der Mission gewesen, nach meinem Geschäft zu sehen, und ritt bei der furchtbar drückenden Schwüle langsam wieder heim. Eine Stunde war ich noch von meiner Plantage entfernt, als sich mit einem Male jählings der Sturm erhob, von den blauen Bergen kam er über die Savannen wüthend dahergepeitscht, und ich gab meinem Pferde die Sporen, um noch vor dem völligen Ausbruche des Unwetters nach Haus zu gelangen; denn ich wußte, daß es mit dem Sturme dahergejagt kam. Da sah ich auf einem weißen Rosse eine helle Frauengestalt heransprengen, die augenscheinlich sich vergeblich mühte, des scheugewordenen Thieres Herr zu werden; ich erkannte sogleich Inez in ihr. Ich warf mich ihr entgegen, und es gelang mir, die Zügel zu erhaschen und das Pferd aufzuhalten. Aber es war nun keine Zeit zu verlieren, das Mädchen zu ihrem Vater nach Haus zu bringen, und bei der fürchterlichen Gefahr des ausbrechenden Wetters mußte ich sie dahin begleiten. Sie war allein ausgeritten, wie so oft; sie hatte wieder heimkehren wollen, aber das scheugewordene Pferd hatte sie in die falsche Richtung entführt.

Der Sturm wurde immer heftiger: Blitze fuhren vor uns nieder, daß die Thiere immer von Neuem scheuten; jetzt fing auch der Regen an zu strömen, und es war keine Möglichkeit, daß Inez sich länger im Sattel halte, obgleich sie eine sichere Reiterin war. Sie wußte in der Nähe unter Magnolien eine kleine verlassene Negerhütte; dorthin flüchteten wir. Es war dunkel in der Hütte; der Sturm beugte die Wipfel der Bäume auf das Dach herab und peitschte den Regen gegen die Wände, daß wir jeden Augenblick denken mußten, sie brächen über uns zusammen. Inez drückte sich immer ängstlicher an mich heran; ich hielt die zitternde Gestalt in meinem Arme aufrecht, während sie meinen Hals umschlang und ihr Kopf an meiner Brust lehnte. Ich sprach zu ihr, wie man einem ängstlichen Kinde zuredet, und als ich mich über sie beugte, sie zu beschwichtigen, fuhr grell ein Blitz nieder, daß ich ihr in die großen, angsterfüllten Augen sehen konnte und sie in die meinen, die wohl freundlich zu ihr sprachen, und – da küßte sie mich und küßte mich immer wieder.

Carmen, Deine Mutter war das unschuldigste, reinste Wesen unter der Sonne; in ihrer Seele war kein unlauterer Gedanke, keine Handlung in ihrem Leben, die nicht vor Gott und Menschen bestehen konnte. Aber dort, unter der glühenden Sonne der tropischen Welt, da fließt das Blut heißer in den Adern, und sie lieben anders, schneller und glühender, als hier im kühlen Deutschland, und vom Kinde zur Jungfrau ist dort ein rascher Sprung. Als ihr Kuß auf meinem Munde brannte, erschrak ich – ich hatte sie wie ein schönes, liebliches Kind angesehen, aber ihr Kuß lehrte mich, sie anders zu betrachten, und – ich war ja doch ein verheiratheter Mann.

Da drangen ängstliche Rufe an unsere Ohren: es waren Neger, die Don Manuel in Sorge um sein Kind ausgesendet hatte, die Vermißte zu suchen, und da nun der erste Stoß des Wetters etwas nachließ, schieden wir alsbald von einander.

Als ich nach Haus kam, war mir das Antlitz meiner Frau in ihrer Häßlichkeit peinlicher denn je; auch ihr Wesen war nie bedrückender für mich gewesen; sah ich doch immer Inez’ liebliche Gestalt, ihre anmuthsvolle Weise vor mir. Aber ich sagte mir, daß dies sündhaft sei, und ich nahm mir vor, nicht wieder zu Don Manuel zu gehen und Inez nicht wiederzusehen. Aber ihr Bild wollte nicht von mir weichen, und mit jedem Tage wurde der Kampf schwerer in meiner Seele.

So ging die Regenzeit hin, während welcher ich kaum die Hacienda verließ und Keinen sah und hörte, als mein Weib. Plötzlich erkrankte diese, und es wurde schnell so schlimm mit ihr, daß Bruder Jonathan, der als Arzt in der Mission lebte und den ich herbeiholte, ein sehr besorgtes Gesicht machte. Es war am fünften Tage ihres Krankseins; Jonathan war am Nachmittag dagewesen; am Abend wurde es plötzlich schlimmer mit ihr; sie klagte immer heftiger, und so entschloß ich mich, noch um zehn Uhr nach der Mission zu reiten. Jonathan war ein gesuchter Arzt; als ich gegen elf Uhr bei ihm anlangte, hatte ihn schon ein Mann aus dem ersten Schlafe geweckt, der für ein Kind Hülfe haben wollte; er saß bei dem Dämmerschein eines Lichtes, auf das Mittel wartend, da – ach, ich erinnere mich noch jeder Kleinigkeit so genau, als sei es gestern geschehen. Jonathan meinte, als ich ihm sagte, daß es sich mit meiner Frau verschlimmert habe: er wolle mir ein Beruhigungsmittel bereiten lassen, aber er habe kaum eine Hoffnung mehr, daß ihr zu helfen sei. Ich war voll Unruhe und Hast, wieder zurückzukehren, und auch der Mann drängte, daß er die gewünschte Arznei empfange. Endlich brachte Thomas, der Gehülfe Jonathan’s, die bereiteten Mittel herein; ich griff eilig nach dem meinigen, denn ich hatte den weiteren Weg. Der Bruder sagte mir noch: 'Es sind Opiumtropfen; gieb ihr fünfzehn davon, wenn Du heimkommst! Und bessert es sich nicht mit ihr, so lasse sie zwei Stunden darnach noch einmal dieselbe Zahl nehmen!' Dann jagte ich auf meinem Pferde davon, in die Nacht hinaus. Als ich so dahinritt, hörte ich immer Jonathan’s Worte: 'Ich habe kaum eine Hoffnung mehr.' Ach, Carmen, es war mir, als seien es erlösende Worte. Ich trug so lange schon furchtbar schwer an dem Joch, das mir in dieser Frau, deren Seele fast noch häßlicher war als ihr Leib, aufgeladen war. Endlich war ich zu Hause angelangt; es war zwölf Uhr geworden; mit der Kranken ging es noch ebenso schlecht; sie klagte heftiger über Schmerzen, und ich zog hastig das Mittel hervor, es ihr zu reichen. Sie stöhnte – da fing ich an die Tropfen zu zählen: eins, zwei, drei, und dabei sagte ich mir: 'Kaum eine Hoffnung mehr – aber doch noch nicht alle Möglichkeit ausgeschlossen.' Meine Hand zitterte; es war, als lege sich ein Nebel vor meine Augen, die Tropfen fielen schneller; ich zählte weiter, immer weiter: dreizehn, vierzehn, fünfzehn – da waren unversehens ein paar Tropfen mehr, als verordnet, in den Löffel gefallen; es folgte noch einer und abermals einer, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig – da stieß ich das Fläschchen von mir hinweg.

'Wo sind die Tropfen? Gieb sie her!' rief die Kranke mit schwächer werdender Stimme; sie nahm den Löffel aus meiner Hand, und ich kehrte das Gesicht ab. – Und da hat mein guter Geist sich auch von mir gewendet.“

Mauer stöhnte und barg das Gesicht in den Händen.

Carmen stockte der Athem; sie wagte nicht die Augen aufzuschlagen, um den Vater nicht ansehen zu müssen; sie wagte nicht sich zu regen noch zu denken.

„Die Kranke,“ begann Mauer nach längerer Pause des Schweigens, „war ruhiger geworden; ihre Athemzüge waren kaum hörbar; schlief sie? In mir schrie es: Gott, Barmherziger, laß sie schlafen, nicht sterben – nur jetzt nicht! Aber ich wagte nicht, zu ihr hinzusehen, nicht hinzuhorchen. Ich war auf mein Lager gesunken und hatte im Grauen, das mich erfüllte, die Decke über mich hingezogen. Die Zeit ging hin, eintönig mit dem Pendelschlage – ich wußte nicht, ob kurz, ob lang. Da hörte ich Pferdehufe vor der Hacienda; es hielt an, und ich erhob mich, die Thür zu öffnen; denn die Diener waren eingeschlafen. Es war erst drei Uhr am Morgen. Der so früh Ankommende war zu meiner Ueberraschung Bruder Jonathan.

'Wie geht es?' fragte er hastig, als er vorn Pferde sprang, und ich antwortete leise:

'Sie schläft.'

Er trat an ihr Lager, drehte die Lampe nach ihr hin, betrachtete sie und sprach:

'Ja, um nicht wieder zu erwachen – ich wußte es, daß sie nicht zu retten war.'

Ich konnte nichts erwidern; ich konnte die Zunge nicht lösen, die mir den Dienst versagte. War sie gestorben, weil sie nicht mehr zu retten war, oder weil ich ihr die doppelte Zahl der betäubenden Tropfen gegeben? Das verhängnißvolle Fläschchen stand noch da auf dem Tische am Bette, wo ich es jählings hingestellt hatte – ich fürchtete, es wieder zu berühren. Jonathan nahm es auf, und es betrachtend, sagte er leichthin:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 730. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_730.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)