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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„Immer Deine abgeschmackten Sterne! Sagen wir lieber: wenn Jugend und Natur kräftig genug sind,“ berichtigte der Alte.

„Aber nun, Vater Claus,“ bat dazwischen das Mädchen mit Ungeduld, und in ihren Augen glänzte es lebhaft wie heimlich glimmendes Feuer, „aber nun erzähl' uns, wie das Alles gekommen! Karin ist traurig.“

„Ja, wie das Alles gekommen! – Der greise Seemann warf sich nachlässig in einen groben hölzernen Lehnsessel und schwenkte das Wasser aus seinem Südwester, daß Rustan, dem die Tropfen in's Gesicht flogen, aufnieste und sich die Augen mit den Pfoten wischte. „Potz Anker und Segeltuch! ist das ein Wetter! Seit mich das Schicksal aus meiner deutschen Heimath in die nordische Einöde verschlagen und zum Strandwächter auf dieser finnischen Schäreninsel gemacht, erlebte ich solchen Sturm nicht, und das will sagen: seit dreißig Jahren. Wißt ja, die See hatte schon den ganzen Tag über rumort und getobt, und als die Sonne unter war, schlugen die Wasser eine Höllenmusik an, als sollte die Welt in Stücke gehen. Hatte wie allabendlich die Signallampe auf dem Leuchtthurme aufgehißt und lugte von da oben über die schwarze Tiefe und die gewaltig tanzenden weißen Wellenhäupter hin – bei der rabenfinsteren Nacht freilich eine müßige Arbeit. Plötzlich seh' ich gar nicht weit von dem vermaledeiten Klippenkranze unserer Küste eine Nothleuchte. 'Gerechter Gott, bei dem Wetter!' – denk' ich. 'Hoiho!' ruf' ich, und meine Jungens, Axel, Olaf und Daniel, sind flugs wie der Wind oben bei mir auf dem Leuchtthurme. Aber der Kukuk kann bei solcher Stockfinsterniß trotz aller Ferngläser einen schimmernden Wellenrücken von einer schweifenden Möve unterscheiden, viel weniger ein Schiff von den am Himmel hin- und hersegelnden schwarzen Wolkenbündeln. Die Jungens waren kaum oben – da kracht ein Nothschuß – also richtig ein Schiff! Hui, wie der Blitz waren wir im Boot und zwei Minuten darauf mit Stricken und Leitern mitten in der brandenden See. Mir schlug das alte Herz an die Rippen; denn hier galt's zu retten und zu helfen. Mußte wohl ein deutscher Passagierdampfer sein, der auf der Fahrt von Stockholm nordwärts in die Alandsinseln getrieben und dann in unsere Klippen gerathen war; denn der Sturm blies aus Südwest – und daß es ein Dampfer war, hörten wir von weither an der gewaltig ächzenden und stöhnenden Maschine. Aber wenn die See wie eine Mauer vor Einem steht, die Wellen sich centnerschwer Einem entgegenwerfen und die Finger vor Kälte und Nässe an den Rudern schier erstarren – ja, da helfe einmal Einer, und wär' er ein Kerl von Eisen! Verdammt! Sahen das Schiff vor unseren Augen scheitern; denn so nahe waren wir ihm doch gekommen. Sag' Euch, 's war ein grausiger Augenblick, selbst für eine in Wind und Wetter verhärtete alte Theerjacke, wie ich. Das krachte, das barst – Menschen wimmerten; Balken zersplitterten. Die Glocke läutete noch einmal, wie wehklagend, auf dem Deck – dann war Alles still; nur die Wellen klatschten an einander, und der Sturm heulte, wie eine vielstimmige Gesellschaft von Teufeln. Eine Sturzwelle überschüttete uns mit einem wüsten Durcheinander von zerschmettertem Schiffsgebälk und Leichen. Himmel und Hölle – mußten unser Segel kappen, und mit Blitzesschnelle warf uns die Fluth zurück in die sichere Bucht unserer Felseninsel.“

Der Alte erhob sich. „Den da“ – er zeigte auf den Bewußtlosen zu seinen Füßen – „fischten wir zwischen den schwimmenden Trümmern auf – und das ist Alles. 'Mein Weib,' rief er, als wir ihn im Boot sicher gebettet hatten, 'rettet mein Weib!' Dann sank er in eine tiefe Ohnmacht.“

„Ach Gott,“ seufzte Karin, „es ist ein so schöner, junger Herr.“

„Und ein gar vornehmer dazu,“ ergänzte Mutter Hedda.

„Potz Anker und Segeltuch!“ fuhr Vater Claus dazwischen, „schön oder häßlich, vornehm oder gering – Mensch ist Mensch. Keine müßigen Seufzer! Reibt ihm Stirn und Schläfen mit dem heißen Branntwein – hurtig!“ Er beugte sich zu dem Ohnmächtigen nieder und legte das Ohr an seine Brust. „Wahrhaftig, er athmet schon hörbar und schneller. Armer Bursche, magst Dir auch nichts haben träumen lassen von dem kalten Salzwasserbade und dem pudelnassen Besuch hier in unserer finnischen Strandhütte. Wie lustig magst Du im Heimathhafen auf's Schiff gesprungen sein!“

„Lustig?“ redete Karin darein und sah den Alten mit ihren großen Augen fragend an, mit Augen, die so geheimnißvoll wie der Himmel des Nordens, so feuchtglänzend und unergründlich waren, wie das Meer, in dem er sich spiegelt – „lustig? Nein, Vater Claus, auf diesem Gesicht steht von ganz anderen, Karin weiß nicht, von welch ernsten Dingen geschrieben.“

„Unsinn!“ fuhr der Graukopf auf. „Was Du wohl von Menschengesichtern weißt!“ Aber dann stieß er sein Weib an: „Hedda,“ sagte er leise, „kann das Mädel sehen! Weiß wohl, den See-Adler erspäht sie, wenn er in den Wolken hängt; ihr Blick folgt ihm bis zum Horst, wo er die Beute niederlegt – aber daß sie den Leuten die Seele vom Gesicht abliest – meiner Treu wer hätte das gedacht! Recht hat sie: er sieht verteufelt ernsthaft aus, unser stummer Gast. Und –“

Vater Claus brach plötzlich ab. Ein heftiger Windstoß erschütterte die Hütte, und von der Felsenhöhe draußen stürzte ein entwurzelter Baum herab und schlug krachend auf das Gestein. Rustan bellte erschrocken auf.

„Potz Anker und Segeltuch!“ fluchte der Alte und ging der Thüre zu. „Muß hinaus auf meinen Posten. Verdammte Nacht heut'! Das Wetter kommt wieder auf. Adjes denn! Aber ich mag Euch nicht allein lassen, will Euch den Olaf schicken.“

„Nein, den Olaf nicht!“ rief Karin mit einer jähen, leidenschaftlichen Bewegung, „den nicht!“

„Gut, so bleibt Ihr allein,“ entgegnete der Alte. „Den Axel und den Daniel kann ich bei dem Wetter nicht entbehren da draußen. Die Jungens sollen den Strand absuchen, ob der Sturm nicht Trümmer oder Todte an's Gestade spült – vielleicht auch die Leiche des jungen Weibes.“

Damit ging er hastigen Schrittes hinaus.

„Karin,“ begann Mutter Hedda, nachdem die Thür lärmend in's Schloß gefallen, „warum wieder diesen Auftritt? Gieb endlich nach und nimm den Olaf! Er ist ein guter Junge, tüchtig und brav und fromm. Was kann Dir Axel, was kann Dir Daniel sein? Ich weiß, Du kannst sie beide nicht leiden. Der Eine ist jähzornig; der Andere ist einfältig. Wenn der Apfel aber reif ist, soll er gepflückt werden – und Du bist siebenzehnjährig. Die Drei sind die einzigen Buben auf der Insel, und die Insel ist unsere Welt. Nimm den Olaf, Karin! Siehst Du denn nicht, wie er sich härmt um Deinetweilen? Und ich sage Dir: er ist Dir bestimmt – ich hab's in den Sternen gelesen.“

„Ich will ihn nicht, weil ich ihn nicht mag.“ – Das Mädchen hatte sich erhoben und stampfte trotzig mit dem Fuße auf. „Ihr könnt der Föhre am Strand die knorrigen Aeste beugen; Ihr könnt den Fels in der Schlucht aushöhlen mit Müh' und Noth, aber Karin's Herz könnt Ihr nicht zwingen. Seht zu, was härter ist, der Fels oder mein Wille!“

„Trotzkopf!“ murrte die Alte, „bist noch immer die nämliche wie damals, als Du in kindischer Neugier durchaus das alte Buch haben wolltest, das der Vater im Schrein hatte – denn Lesen war von je Deine Lust – das prächtige Bilderbuch von der Edda und den alten Seefahrern. 'Wenn Ihr mir das Buch nicht gebt,' eifertest Du und liefst an den Strand und tratst dicht an die jäh abfallende Felskante hinan, 'so springe ich hinab in die See.' Und richtig – wir glaubten, das Herz solle uns still stehen im Leibe – als der Vater bei seiner Weigerung blieb, da sprangst Du – Herr des Himmels! – hinab in die Tiefe und schwammst lustig um die Klippen und lachtest dazu.“

„Und ich erreichte meinen Zweck,“ sagte Karin ruhig und warf den Kopf in den Nacken.

„Freilich,“ seufzte Mutter Hedda, „nur das Versprechen, Du solltest das Buch haben, lockte Dich aus dem Wasser. Starrkopf damals wie heute!“

Die Alte that einige hastige Schritte durch den engen Raum.

„Ist das ein Wetter!“ fuhr sie fort; denn der Sturm umbrauste in diesem Augenblicke die Hütte mit erneueter Gewalt; er faßte sie so heftig, daß sie in allen Fugen knarrte und ächzte. „Ich will hinaus und sehen, wie die Wolken jagen und die Sturmvögel im Zickzackfluge flattern; die Zukunft webt darin – und was Dich betrifft und den Olaf, ich will's überlegen, Tochter – überlegen beim Windessausen –“

Sie ging, aber auf der Schwelle wandte sie sich noch einmal um. „Thu' Kräuter in den Branntwein, hab Acht und wärme unserm Pflegling Puls und Schläfen!“ Draußen verhallte ihr Schritt auf dem steinigen Boden der Insel. –

Karin war allein mit dem Fremdling. Es war ein reizendes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 746. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_746.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)