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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Claus. Menschen sollen möglicher Weise noch auf dem Wracke sein – Menschen und Güter? Du lieber Gott – der Sturm und noch Lebendiges oder Todtes auf so einem wetterzerborstenen Fahrzeug! Zum zweiten Male mach' ich übrigens die Fahrt nicht mit, und wären Beelzebub 's sämmtliche Hunde hinter mir –“

„Das sag' ich aber auch,“ stöhnte Daniel dazwischen und schüttelte sich vor Frost.

„Jungens, habt Ihr denn unsern Geretteten schon gesehen?“ fuhr Axel fort, und schlug den letzten Knoten in das Bootstau, „ein wahres Exemplar von einem Mosjö Vornehm. Ich sag' Euch, sieht der aus in unsern Seemannskleidern! Das schlottert und schlackert ihm um den Leib und sitzt ihm just wie ein Sack auf den feinen, ach, so feinen Landrattengliedern – 's ist possirlich anzusehen, sag' ich Euch. Wie todt hat er in der Hütte gelegen, und die Weiber haben ihn gehegt und gepflegt, so behutsam, wie ein Kind von drei Tagen. Da hat er denn endlich – ich weiß es von Mutter Hedda – die Augen aufgeschlagen, unser Herr von Unbekannt, und als er nun erfahren, daß er von all den Passagieren, sein eigen Weib nicht ausgenommen, der Einzige sei, dem es nicht an den Kragen gegangen – ja, was meint Ihr wohl, wie ihm das in die Glieder gefahren ist? Nicht wahr, laut gejammert hat er, die Hände gerungen und die Haare gerauft? Fällt ihm nicht ein, Jungens! Nur ein einziges Mal geseufzt hat er, beklagt, daß so viele Menschen um's Leben gekommen, aber für sein Weib – und die muß doch wohl schön und jung gewesen sein – für die Frau von Unbekannt, hat er kein Wörtchen der Klage gehabt, kein Sterbenswörtchen, sagt Mutter Hedda. Bomben-Element, ist Euch das ein Ehemann! Ja, ja, diese vornehmen Herren mögen wohl – – aber schwere Noth, Jungens!“ brach er plötzlich ab und stieß zur Bekräftigung seiner Worte einen im Wege liegenden Stein mit dem Fuße fort, daß er in großen Sätzen weit vor ihm hinflog, „seht doch, da kommt Vater Claus eben über die Felsen herabgestiegen.“

„Und unser Geretteter mit ihm,“ ergänzte Olaf.

„Der Alte wird nicht gar freundlich dreinschauen,“ meinte Axel, „wenn er uns mit leerem Boot zurückgekehrt sieht. Aber Prosit Mahlzeit! Mit Wind und Wellen ist schlecht rechnen. Kommt fort! Die Begegnung ereilt uns immer noch früh genug.“

Er zog die Beiden über das ansteigende Felsgeschiebe des Ufers mit sich fort.

Als sie eine Weile gestiegen waren, machte Olaf sich von ihm los, kletterte auf einen einsam gelegenen Steinblock, legte die Hand wie ein Dach über die Augen und blickte lange nach der Seite der Insel hinüber, wo die Hütte im Nebel lag. Dann ließ er den Arm sinken, schüttelte leise das Haupt und folgte langsamen Schrittes seinen beiden Cameraden.

„Sie wird in der Grotte sein,“ sagte er in sich hinein, traurig und gedankenvoll. Ueber sein bleiches Gesicht ging etwas wie Wehmuth.

Gleichzeitig kamen von der andern Seite, auf dem hohen Ufer Vater Claus und sein Begleiter daher. Diese Zwei, wie seltsam verschieden neben einander! Der Alte, in jeder Linie ein plumper Seemann, schritt im hin- und herschaukelnden Schiffergang mit lustig dampfender Pfeife fürbaß; die nur lose umgeworfene Jacke wehte im Winde hinter ihm drein, und unter dem großen Südwester auf seinem Kopfe, der Nacken und Schultern breit bedeckte, blickte sein viel durchfurchtes, sturmgegerbtes Gesicht freundlich in die Welt hinaus, als wäre sie die schönste aller Welten, voll Freud' und lauter Fröhlichkeit. Wie anders sein Nebenmann! Die geschmeidige, edle Gestalt, der die groben rauhen Seemannskleider höchst ungeschickt auf den Gliedern hingen, bewegte sich ungezwungen und leicht in der ungewohnten Tracht. So oft der schlanke Mann das Haupt hob und, den Schritt hemmend, in die sich allmählich klärende Morgenlandschaft sinnend hinausblickte, schlugen sich in dem ernsten, von einem kräftigen Vollbart umrahmten Gesicht zwei tiefe, schwarze Augen so vielsagend auf, daß eine ganze Welt unausgesprochener Gedanken in ihnen zu weben schien.

„Reicht mir die Hand, daß ich Euch stütze!“ sagte Vater Claus, indem sie von der Höhe hinabstiegen. „Eure Füße sind an das spitzige Gestein nicht gewöhnt.“

„O, welch ein Schicksal!“ rief der Andere, der die Worte des Alten zu überhören schien, in tiefer Bewegung. „Da hinten, jenseits der weißen Schaumlinie der Brandung, liegen die Gefährten meiner Fahrt im nassen Grabe und mit ihnen auch sie, welche mein Weib hieß. Und ich, der Einzige unter Allen, ich wandle hier, zu sagen, daß sie dahin sind. Das Leben ist ein fragwürdiges Gut, und vielleicht ist der Moment, wo die athmende Brust sich zum letzten Male hebt, am höchsten zu preisen. Ich danke Euch nicht, daß Ihr mich dem wüthenden Elemente entrisset und mich zwangt, das Geschäft des Athmens fortzusetzen, aber ich verehre in Demuth Euer greises Haupt; denn es steht mir – das fühle ich klar – als Markstein am Eingange in eine neue Welt des Wirkens und Wollens.“

Er reichte dem Greise mit einem warm aufleuchtenden Blicke seine beiden Hände. Dieser ergriff sie lebhaft und stand wortlos da. Mit freundlichem Schütteln des Kopfes wies er die aufwallenden Gefühle des Jünglings zurück, der nur um so feueriger zu reden fortfuhr:

„Sie nennen Euch Vater Claus, und ich kann Euch nicht anders nennen, denn auch mir seid Ihr ein Vater geworden – durch Euch dem Leben wiedergegeben, bin ich seit heute ein neuer Mensch. Und – wunderbar! – es ist mir, als müßten die dunklen Bahnen meines Geschicks von nun ab einlenken in die Lichtnähe einer wärmeren, freundlicheren Sonne.“

„Das walte Gott!“ sagte der Alte und entblößte, innerlich ergriffen, unwillkürlich das Haupt.

„Und nun hört, wer ich bin und was ich litt!“ nahm der Fremdling das Wort. „Mein Name ist Friedrich Baron Haller von Hallerstein, und meine Güter liegen in Thüringen. Ich bin in Berlin erzogen worden und habe dort meinen Wohnsitz. Diese Reise in den Norden dictirte mir das Gewissen; es galt einem Eid gerecht zu werden, den ich vor zehn Jahren an des Vaters Todtenbett geschworen und vor drei Monaten der sterbenden Mutter in die erkaltende Hand wiederholt, beide Male – ja, ich war schwach genug dazu – gegen meines Herzens bessere Meinung und nur um eine frühere Abmachung der Eltern zu bestätigen, eine Abmachung um des leidigen Mammons wegen. Das Geschlecht Derer von Hallerstein lebte nur noch in zwei Linien. Ich bin der letzte Sproß des deutschen Zweiges der Familie, und der schwedische würde nach dem Tode meiner schönen Cousine Margaretha seine unermeßlichen Güter skandinavischen Adelsgeschlechtern, die mit den schwedischen Hallerstein's verschwägert sind, hinterlassen haben, hätten unsere beiderseitigen Eltern mir das Mädchen nicht schon in der Wiege vorsorglich verlobt. Margaretha wurde früh eine Waise; nun waren wir beide elternlos. Ich hatte meine Braut nie gesehen – wie sollt' ich sie lieben? Gleichviel! Sie hatte mein Wort. In diesen Tagen war sie siebenzehn-, ich fünfundzwanzigjährig. Das war der Termin, an den mein Eid mich band. So ging ich denn zu Schiff nach dem schönen Stockholm, dem der blaue Mälar die Stirn und die brausende Ostsee den Fuß küßt. Hohn des Schicksals! Eine Brautfahrt ohne Liebe!“

Er schwieg einen Augenblick und athmete schwer auf. Die Erinnerung an eine so lange getragene Seelenqual schien ihn zu übermannen. Er drückte den Hut tiefer in's Gesicht, als solle der Andere den Schmerz in seinen erregten Zügen nicht lesen.

„Ich erreichte mein Ziel,“ fuhr er dann gepreßt fort. „Und wie fand ich meine Braut? Schroff und vornehm, kalt und glatt, wie die Schneegebirge des Nordens, der sie erzogen. Dann kam die Hochzeit. Fröhliche, glänzende Feste – und im Innern diese Oede! Die Rückreise machten wir am Bord des 'Kung Carl'. Mein junges Weib sprach nur von den kommenden Huldigungen in den Salons meiner thüringischen Schlösser. Mein Herz war düster wie der Himmel über uns – und an diesem Himmel zog eine drohende Wolkenwand auf. Der Capitain verkündete einen Orkan. 'O,' sagte ich zu mir selbst, 'wer da unten schlafen könnte, still und stumm, tief unter der rollenden Wogen!' Der Sturm brauste herein – wir scheiterten – den Rest meines Schicksals kennt Ihr.“

Vater Claus nickte nachdenklich mit dem Kopfe. „Wie verworren,“ sagte er, „sind die Schicksale der Menschen da draußen in der Welt!“

„Glücklich Ihr in Eurer Verborgenheit!“ seufzte der Baron.

Sie gingen eine Weile schweigend neben einander hin.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 766. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_766.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)