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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Stimme eines Sterbenden. Ein Schwarm schrillender Möven, wie er einem neuen Windstoß voranzufliegen pflegt, schoß unstät über die im Abenddunkel liegenden Felsklippen hin, und Gischt und Wolken jagten hinterdrein.

„Seht doch, Herr!“ rief auf einmal Axel, „Karin hält etwas Dunkles umklammert, als wollte sie’s nicht fahren lassen im Sturme. Sieht es nicht aus, wie eine kleine Kiste?“

„Wär’ es möglich? Sollte denn –?“ rief Vater Claus, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt; „das könnte Euere Truhe sein, Baron. Sie kommen vom Wrack, die Verwegenen!“

„Meine Truhe! Ja, sie ist’s,“ fuhr erschrocken Hallerstein auf, der durch’s Fernrohr scharf hinaus gespäht hatte. „Ha, war es so gemeint? O, Du heldenmüthiges Mädchen!“

„So ist Alles klar,“ sagte der Alte.

„Helft, rettet!“ wandte Hallerstein sich an die Umstehenden. Er rang die Hände – seine Blicke flehten. „O, daß nicht ich, ich selbst nicht helfen kann!“

„Alles ist zu spät, fürchte ich,“ kam es dumpf von des Greises Lippen. „Hierher, Daniel!“ winkte er dem Burschen, der eben mit Leitern und Stricken zurückkehrte. „Halt’ Alles bereit!“

Abermals erscholl der Ruf vom Boote her. Er verhallte in dem Tosen von Wind und Wasser; denn wilder als je vorher, brausend und zischend, kam jetzt die Bö über die schwarze Tiefe dahergefegt; sie kämmte die weißen Häupter der Wellen heulend ab und überfiel das kleine Fahrzeug mit wüthendem Anpralle. Tief auf die Seite gepreßt, tanzte es bald auf dem Rücken einer riesigen Welle, bald fuhr es mit gewaltigem Rucke in den gähnenden Abgrund hinab, und wie eine tanzende Wolke von Schaum und Sprühregen stürzte das Wasser darüber hin. Inzwischen brach das Dunkel mehr und mehr herein.

„Hilf, Himmel,“ rief der Alte, „jetzt gerathen sie in die Brandung. Ein Augenblick noch, und Alles ist entschieden. Holla, Axel, Daniel, die Stricke los, die Körbe herbei!“

Das Herüber und Hinüber der Stimmen klang wie ein wirres Gemisch von Flüchen und Gebeten durch den brausenden Orkan, und der Widerhall der einzelnen Windstöße sprang von Klippe zu Klippe, eine endlos hallende Sturmsymphonie. Ein Hülferuf noch vom Boote her, ein geller Verzweiflungsschrei – und eine machtvoll rollende Sturzwelle schleuderte das Fahrzeug mit dumpfem Krache mitten in das spitzige Gezack der Uferklippen. Die Brandung rollte in donnerndem Getöse darüber hinweg und rannte grollend gegen das steil ansteigende Gestade. In demselben Momente flogen Stricke und Rettungskörbe, von Axel’s nervigem Arme geworfen, in das mit weißem Schaum überschüttete Boot – umsonst! Die nächste zurückrollende Welle zeigte ein gräßliches Bild: Gekentert, mit dem Kiele nach oben, tanzte das Fahrzeug auf der Fluth, unter dem Zuge der Wellen steigend und sinkend. Krampfhaft an Bug und Flanke des Bootes geklammert, hing Karin im Tumulte der Wellen; ihre Arme leuchteten wie weiße Korallen am Riffe durch die Dämmerung, und schäumende Wasserzungen leckten, eine nach der andern, lüstern darüber hin. Weitab von ihr, jenseits des Bootes, kämpfte Olaf verzweifelt mit den Wellen, aber hoch oben auf dem Kiele des gekenterten Fahrzeuges, gleitend und glitschend auf dem nassen, schlüpfrigen Boden, stand Rustan und heulte und wimmerte in den Sturm hinaus.

„Leitern her!“

„Der Bursche ist verloren.“

„Werft die Stricke noch einmal!“

„Rettet das Mädchen!“

Die Rufe hallten und verhallten in wirrem Durcheinander. Nun noch ein letzter Aufschrei. Olaf winkte wie zum Abschied und versank am Felsen in die schwarze Tiefe.

In demselben Augenblicke ließ Karin mit erlahmenden Kräften das Boot fahren; sie machte eine verzweifelte Anstrengung; sie versuchte zu schwimmen, und – wirklich! – mit starken Armen theilte sie die anstürmenden Wasser, aber nur wenige Schläge – eine Welle faßte sie und warf sie mit zerschmetternder Wucht gegen die scharfe Kante einer Klippe; ihr Haupt sank zurück, kraftlos, ohne Regung. Da – mit gewaltigem Satze war Rustan vom Boote herab und neben der Sinkenden; er schlug seine Zähne in ihr Gewand und, ein rüstiger Ringer und Retter, ruderte er mit der kostbaren Last durch Braus und Brandung.

„Er kann sie nicht retten; er muß unterliegen,“ wehklagte Vater Claus, aber das kräftige Thier strebte tapfer dem Ufer zu. „Nun faßt ihn der Strudel zwischen den Riffen; der wird ihn verschlingen.“

In wildem Wirbel wurde Rustan hin und her geschleudert, und secundenlang war er den Blicken der angstvoll Zuschauenden entschwunden, dann aber blickte sein Kopf aus den Wellen hervor, verschwand abermals und tauchte endlich doch wieder auf.

„Seht!“ rief jetzt der Baron, „ein gigantischer Wasserberg rollt daher, größer als alle anderen zuvor,“ und in demselben Augenblick versanken Hund und Mädchen in den brodelnden Schaum einer sie überschüttenden riesigen Woge. „Vorbei!“ schluchzte Hallerstein wild auf; „alles vorbei!“ aber aus Gischt und Gährung tauchte Rustan’s zottiges Haupt auch diesmal wieder empor, nur noch eines Steinwurfes Weite vom Ufer entfernt. Er trug die Ohnmächtige wie mit eisernen Zähnen keuchend durch das entfesselte Element, allein seine Kraft schien fast erschöpft. Jetzt fuhr der Orkan mit gesteigerter Gewalt über die Wasser hin. Noch eine brandende Welle – und gerettet auf dem Felsen des Strandes lagen Hund und Herrin.

In dem nun völlig hereingebrochenen Zwielicht der Nacht gewährten die Zwei einen ergreifenden Anblick: die Augen halb geöffnet, ohne Glanz, ohne Leben, lag Karin regungslos und starr auf dem dürftigen Moose hingestreckt, ein stilles, reines Alabasterbild; ihr langes, goldig schimmerndes Haar hing tropfend über einen Granitblock. Aber über ihr, keuchend auf ihre Brust gepreßt, rang Rustan, der muthige Schwimmer, mit fliegenden Flanken nach Athem. Er hatte die triefenden Tatzen wie umarmend um ihren Hals gelegt und blickte ihr mit seinen klugen Augen groß und fragend in das schöne bleiche Antlitz. Ein Stern schimmerte durch die Wolken herab und umwob das rührende Bild mit seinem zitternden Lichte.

Hallerstein war der Erste, der hinzutrat, nur ein Blick auf Karin, und „Todt, todt!“ rang es sich von seinen Lippen. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen. Von Schmerz übermannt, taumelte er in die Arme des herbeigeeilten Axel. Die ungeheuern Erlebnisse von gestern und heute hatten endlich seine Kraft erschöpft. Mit schwindendem Bewußtsein hörte er noch, wie Mutter Hedda, die mit dem Alten vom Felsen herabkam, etwas murmelte von der niemals trügenden Schicksalsschrift am Firmament und der Menschen Ohnmacht. Er fühlte sich aufgehoben, hinweg getragen – die Sinne schwanden ihm völlig, und Dunkel umgab ihn. –

Als er wieder erwachte, lag er in voller Kleidung in der Hütte; er lag auf demselben Lager, auf dem er gestern, ein Halbertrunkener, die Augen aufgeschlagen und als erstes Bild des wieder erwachenden Lebens Karin’s reizende Gestalt erblickt hatte. War es wirklich dieselbe Hütte? Ja, er konnte sich nicht täuschen. Hier die mit Segeln und Seekarten bedeckten Wände, dort Compasse und Ferngläser und die aus einem zertrümmerten Bootc zurechtgezimmerte Ruhebank – es waren dieselben Dinge wie damals, die ihn heute umgaben. Nur der Kienspan an der Decke brannte nicht – durch das niedrige kleine Fenster lachte der Morgen hell herein.

Hallerstein fühlte sich noch halb wie in den Bildern eines schweren Traumes gefangen; halb dämmerte die schreckliche Wirklichkeit in ihm auf. Wehmuth beschlich ihn; es war ihm, als müßte Karin wieder vor ihm stehen, als müßte sein erwachendes Auge, von süßem Zauber ergriffen, wie gestern einen plötzlichen tiefen Blick thun in die reinen, blauen Augensterne des geliebten Mädchens – und heute? Eine Thräne rollte ihm in den Bart hinab. Zwischen gestern und heute lag ja ein klaffendes Grab – sein todtes Glück schlief darin. Er stöhnte leise, und: „Ein großer Durst nach –“ flüsterte er vor sich hin. „Ein Durst, ewig unstillbar.“

Nun horchte er auf; er horchte nach dem Sturme. Alles ruhig – kein Wellengeräusch, kein Windesrauschen mehr; alle Stimmen der Natur schliefen. Eine Föhre, die ihre spärlichen Zweige an’s Fenster lehnte, stand regungslos in der ruhigen, klaren Morgenluft. Ein Strandvogel wiegte sich auf einem ihrer Aeste – der Sturm hatte sich über Nacht gelegt. Hallerstein dachte an sein todtes Mädchen – das Schweigen um ihn that seinem Herzen wohl. Aber nun vernahm er doch etwas in der Stille: leises, eifriges Gesumme von menschlichen Lauten, ernst, fast feierlich, dann schwere Männerschritte auf dem Gestein. „Mutter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_782.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)