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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


für gut befunden worden. Außerdem hätten seine Vernunft, seine Einsicht und sein gutes Herz aus allen Reden hervorgeleuchtet. Auch sei ihm das onus conservationis auf's Nachdrücklichste vorgestellt worden und sein darauf bezüglicher Entschluß sei an Eides Statt von ihm niedergesetzt und folge hiermit im Original bei, das er, der Präpositus, den Herrn Generalsuperintendenten ersuche, ihm ganz gefälligst direct wieder zuzustellen, auf daß er es zu den Acten thun und bei der Institution der Gemeinde vorlegen könne. Dies Alles liest Rickmann mit der fieberhaften Begier, es ganz zu fassen, aber die Buchstaben verwirren sich vor seinen Augen, und der Stil ist ihm unverständlich; er will versuchen, die Brillengläser zu putzen, aber das herabgefallene Tuch, das er dazu von der Erde aufnimmt, ist naß, wie durch's Wasser gezogen.

Er hatte es vorhin in der Erregung nicht mit sich genommen, und Jemand Anderes muß es in seiner Abwesenheit benutzt haben.

„Heiliger Gott, was hast Du mit meinem Kinde gemacht!“ stöhnt Rickmann und wischt mit dem Rockzipfel die Brille.

Aber auch durch die blankgeputzte Brille begreift er nicht mehr von Dem, was der Präpositus geschrieben hat, als vorher. Erst als ihm die folgende Beilage, welche Johannes' eigene Schriftzüge trägt, in die Hand kommt, geht ihm ein klares Licht auf, das sich aber durch zwei bittere Thränen, die schwer wie Schweißtropfen niederfallen, trübt.

„Ich, Karl Wilhelm Johannes Strohmeyer,“ heißt es in dem Schreiben, „bezeuge hierdurch, daß ich den Organistendienst hierselbst suche und mich bei meiner Ehre anheischig mache, des hiesigen Küsters und Organisten seligen Frederick's Wittwe zu ehelichen, widrigenfalls ich mich dieser Ehre für verlustig erkläre, und wenn ich gleich schon zum Dienste gelangt sein sollte, mich alles Rechts und Anspruchs daraus gänzlich bar ansehe.“

Dann folgen noch Ort und Datum, aber der Thorschreiber liest nicht weiter. Er faltet die Papiere heftig wieder zusammen und wickelt sie in einen großen Bogen. Morgen in aller Frühe wird er sie Johannes hintragen; denn er will nicht, daß Dieser noch einmal seine Schwelle betritt.

Dann wartet er, bis Dorette hereinkommt; aber er muß lange warten. Noch sitzt sie draußen auf dem Herde, zusammengekrümmt wie ein angeschossenes Thier des Waldes. Immer unregelmäßiger werden die Schläge ihres Herzens; immer verworrener und bleierner ihre Gedanken; denn sie blutet ja aus tausend Wunden. Endlich stößt sie einen Schrei aus, so wild und herzzerreißend, daß er von der Mauer widerhallt und sie, entsetzt vor sich selber, emporhebt.

Da ringt sie die Hände und schreit abermals, und es ist, als würde ihr leichter in tiefster Seele – und wenn sie nicht schaudernd an ihren Vater dächte, würde sie fort und fort schreien, bis ihr ganz leicht würde und sie todt zu Boden fiele. So aber kommt ein eiserner Wille über sie, daß sie aufsteht und hineingeht.




7.

Reichlich ein Monat ist seit diesem Abend verflossen. Dorette ist im Hause beschäftgt; denn es ist Vormittag und der Thorschreiber muß pünktlich zu Mittag essen.

Wer Dorette Rickmann vor einem Vierteljahre sah, als die Herbstlüfte um Stralsund wehten, der wurde glauben gemacht, daß jedes Herz seine besondere Jahreszeit hat, und wer sie heute sieht, der muß meinen, daß jeder einzelne Mensch auch eine selbstständige Zeitrechnung hat; es scheint ihm nicht möglich, daß erst ein Monat verging, seit Johannes Strohmeyer zuletzt in diesem Hause war.

Dorette hat es eilig, und die Dinge gehen auch vorwärts, wenn sie arbeitet; aber was sie auch thut, alle ihre Hantirungen sehen aus, als wären sie schmerzhaft müde, als hätte sie viele, viele Nächte nicht geschlafen. War sie früher schlank, so ist sie jetzt mager. Der ewige Wechsel in dem Ausdrucke ihres Gesichtes ist verschwunden; dieses Gesicht hat nur noch einen Ausdruck – und das ist der Ausdruck bitteren Spottes.

Nein, es ist nicht wahr, daß seit jenem Abend erst ein einziger Monat in's Land ging – es ist lange, lange, unendlich lange her. Aber wenn wir sie frügen, wann es war, so würde sie sagen: „gestern Abend.“ Vielleicht, weil es eine gute alte Gewohnheit war, zu sagen: „gestern Abend“ – vielleicht auch, weil sie seitdem nichts weiter erlebt hat. Nur aus der Ferne hat sie gehört, daß Johannes Stralsund für immer verlassen hat, daß seine Confirmation hierorts vollzogen wurde und daß er nun in Greifswald auf den Ruf zur Einsetzung in's Organistenamt wartet.

Aber es hat sie kalt gelassen – das Alles sind keine Erlebnisse mehr für sie. Sie weiß, daß in der Stadt viel über Johannes und sie gesprochen wird, und deshalb hält sie sich meist zu Hause. Aber wenn sie doch unter Leute geht, ist sie bitter und unliebenswürdig. Sie hätte die Kraft, sich besser zu beherrschen, aber sie hält es nicht für der Mühe werth.

Sie liest fast gar nicht mehr; die Bücher, die ihr Johannes schenkte, liegen oben in der Truhe bei dem weißen Einsegnungs- und Ballkleide – und vor der Truhe, zertreten und zerstreut, liegen welke Rosenblätter. Ihre einzige Rettung sind das Hauswesen und die Pflege des Alten.

Jetzt ist es gleich zwölf Uhr. Dorette hebt die Speisen vom Feuer und trägt sie hinein. Da kommt auch schon ihr Vater, aber er kommt nicht allein. Er nöthigt einen weißhaarigen, alten Herrn vor sich her in's Zimmer. Mit dem greisenhaften Lächeln, das sich der Thorschreiber in den letzten Wochen angewöhnt hat, bittet er den Fremden, ihm doch die Ehre anzuthun, hier Platz zu nehmen. Dieser sieht mit kleinen, hellblickenden Augen bald auf Rickmann, bald auf Dorette.

„Er ist also der Thorschreiber Rickmann, und dies hier ist Seine Tochter?“ hebt er endlich an. während sein Blick prüfend auf Doretten haften bleibt.

„Ja, Euer Hochedeln, die sind wir.“

„Und ein Johannes Strohmeyer ist mit Ihm verwandt?“

Ein böses Lächeln tritt auf die zugespitzten Lippen des Mädchens, als wollte sie sagen: „Was nun noch?“ Aber sie hält die Musterung des alten Herrn ruhig aus; die Farbe ihres Gesichts wird noch um einen Schein blasser; sonst steht sie wie aus Erz gegossen da.

Doch ihres Vaters Lippen zittern, als er mit einem kurzen „Ja“ antwortet.

„Und Er will Einsprache erheben, daß dieser Johannes Strohmeyer, der bereits vom Herrn Generalsuperintendenten confirmirt wurde und am nächsten Sonntag in das Organistenamt, das er begehrt hat, instituirt werden soll, daß dieser Strohmeyer, sage ich, des Cantors Frederick Wittwe eheliche – wie?“

„Wer sagt das, Herr?“ fährt der Thorschreiber zornig auf. „Ich bin nicht sein Vormund; mag der Strohmeyer thun, wozu ihn der Teufel verführt! Herr du meines Lebens, auch das noch!“

„Ich verbitte mir Schmähungen über denjenigen, den ich mir zum Organisten erwählt habe!“ sagt der Fremde mit Nachdruck. „Es handelt sich hier nur –“

„Wer hat das gesagt?“ unterbricht ihn Rickmann. „Ich bitte Eure Hochehrwürden um Vergebung, aber welcher Mensch hat mich so verleumdet? Welcher? Welcher hat das gesagt?“

„Sei Er nicht so heftig, Alter!“

„Warum soll ich nicht heftig werden Herr? Weil ich ein gemeiner Mann bin, und Ihr ein geistlicher Herr?“

Der Pastor erhebt sich:

„Es handelt sich hier um weiter nichts – diese fatale Historie hat mich schon Noth und Mühe genug gekostet, bis ich mich entschlossen habe und bin selber hierher gereist an die Brutstätte des Geklätsches; darum erschwer' Er mir die Angelegenheit nicht! Hier handelt es sich um weiter nichts, als ob besagter Johannes Strohmeyer gewiß und wahrhaftig mit Seiner Tochter, der Jungfer Dorette Rickmann, versprochen war, und ob Er Einspruch thun will, daß derselbe sich anderweit vereheliche, wie mir durch einen Stralsunder Schulmeister, der auch wegen des vacanten Dienstes bei mir war, zu Ohren gekommen ist?“

Da tritt Dorette vor.

„Hochehrwürden,“ sagt sie, und ein kalter Hohn klingt durch ihre Worte, „zwischen mir und meinem Vetter, Johannes Strohmeyer, hat nie ein Verlöbniß stattgefunden. Mein Vater kann es Ihnen schwarz auf weiß geben, auf daß Sie es auch zu den Acten legen, gleich anderen Schriften, die an Eides Statt geschrieben worden sind.“

„Ja, Euer Hochehrwürden, das will ich. Das ist eine ausgesponnene Lüge, und Niemand kann sagen, daß Johannes Strohmeyer des Thorschreibers Tochter hat sitzen lassen,“ erwidert nun seinerseits der aufgebrachte Alte, dem es ganz entgangen ist, daß Dorette auf das dem Schreiben des Präpositus, beigefügte Document von Johannes' Hand angespielt und also damals doch den offenen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 832. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_832.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)