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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

des deutschen Landes, keineswegs Grenzscheiden zwischen Deutschen und Deutschen.

Wenn Schiller seinen „Wallenstein“ auf böhmischem Boden auflas, in’s Egerland ging, um daselbst seine Vorstudien zu der gewaltigen Trilogie zu machen, so zweifelte er eben keinen Augenblick, daß sowohl dieser Boden wie die Gestalt Wallenstein’s selbst durch und durch deutsch sind.

Doch dies bei Seite! Es giebt ein unwidersprechliches Zeugniß, daß um die Wende dieses Jahrhunderts in Böhmen das Czechenthum social, politisch und geistig dem Deutschthum den Platz geräumt hatte und zwar nicht zwangsweise, sondern weil es zur Erkenntniß der überlegenen Eigenschaften des deutschen Volksgeistes gelangt war. Dieses Zeugniß haben, ohne es zu wollen, jene „dreiunddreißig Originalböhmen“ abgelegt, welche bei den Ständen gegen die Germanisation in Böhmen protestirten. Und in merkwürdigem Zusammenhange mit dem Nothschrei dieser „Dreiunddreißig“ steht der etwa gleichzeitige Bericht des Oberstburggrafen von Böhmen an den Kaiser Franz, daß es unmöglich sei, Beamte aufzutreiben, welche der czechischen Sprache mächtig wären.

Wie hätte es auch anders, sein können? Rings um Böhmen herum saß von jeher uraltes Deutschthum; an den Grenzen Ober- und Niederösterreichs, Baierns und Sachsens hatte der Czeche niemals festen Fuß gefaßt. Und in Prag, dem Mittelpunkte, gab es zwar czechische Kleinbürger und Handwerker in schwerer Menge, aber das gesellschaftliche und geistige Leben wie dasjenige der Behörden wurzelte in deutschen Ueberlieferungen. Vor dem Usurpator Bonaparte flohen Stein, Scharnhorst, Gentz und Varnhagen von Ense nach Prag, und nach Bonaparte’s Niederwerfung ist nirgends auch nur der leiseste Zweifel zu bemerken, daß Böhmen als ein deutsches Land dem Bunde einzuverleiben sei. Dreißig Jahre später klingt und singt es von deutscher Lyrik in Böhmen: Moritz Hartmann, Alfred Meißner, Uffo Horn stimmen ihre Lieder an. Ein deutscher Publicist, Ignaz Kuranda, muß die Prager Heimath verlassen und gründet in Brüssel die „Grenzboten“. Karl Herloßsohn schreibt vielgelesene Romane. Die Prager Universität gelangt zu erneuter Blüthe, und Männer wie Curtius, Schleicher, Esmarch, Brinz, Herbst und Arlt machen sie zu einer Ruhmesstätte deutscher Wissenschaft. Rokitansky und Skoda, die beiden Begründer der berühmten Wiener medicinischen Schule, sind Czechen von Abstammung, aber sie sind zu den Höhen der deutschen Wissenschaft emporgeklommen und haben, da oben angelangt, den nationalen Gegensatz, der sie umbrauste, weit von sich fort gewiesen. Gleichfalls von diesem nationalen Gegensatze unberührt – wenn sie sich nicht geradezu gegen denselben auflehnten – sind die zahlreichen wohlberufenen Musiker und Musikgelehrten geblieben, welche Prag in neuerer Zeit geboren: Hanslick und Ambros, Moscheles, Dreyschock und Laub, Jenny Lutzer, Pauline Lucca.

Nicht anders als die geistige Physiognomie stellt sich die Entwickelung in der Administration des Landes und in der Ausnützung seiner materiellen Wohlfahrtsquellen dar. Die hervorragenden Industriellen sind Deutsche, wie die erfolgreichsten Landwirthe; die Lehrkräfte sind deutsch wie die Pfadfinder des böhmischen Import- und Exporthandels; Deutsche haben die Kohlen- und Holzindustrie im Westen und Nordosten, die Textilindustrie im Nordwesten und Norden des Landes geschaffen.

Da wir hier weder mit Zahlen noch mit Namen operiren dürfen, wollen wir nicht dem Lexikographen in’s Handwerk pfuschen; sonst könnten wir leicht mit der Gallerie berühmter Deutscher aus Böhmen viele Seiten füllen, denen Oppolzer, der Arzt, Günther, der Philosoph, Unger, der Jurist, und Führich, der Maler, gewiß nicht zur Unzierde gereichen würden.

Worauf nun begründet sich aber der Anspruch der Czechen auf die Alleinherrschaft in Böhmen?

Von ihrem przemyslidischen Herrscherhause ist, die mythische Libussa abgerechnet, wenig Rühmliches zu vermelden. Einer und der Andere dieser Herrscher zeichnet sich durch besondere Unmenschlichkeit aus, wie beispielsweise jener Sobieslaw der Zweite, der für einen Schild voll deutscher Nasen hundert Mark Silber ausbot.

Ueberhaupt ist es unmöglich, bis zu den Hussitenkriegen von einem czechischen Volksthum zu reden, und wie dasselbe mit der Lehre des Johannes Huß sich erfüllte, bietet es wahrlich kein anziehendes Bild. Ziska ist nach Huß gewissermaßen der erste Czeche von Weltruf, und seine Thaten sind Thaten der Rache, der unmenschlichen Grausamkeit. Nein, die czechische Reformation ist weder in ihren Zielen, noch in ihren Motiven, weder in ihren Lehren, noch in ihren Handlungen schöpferisch und befreiend. Luther hat schon Recht, daß er sich gegen den Vorwurf Eck’s in der Leipziger Disputation, als ob er an der böhmischen Sectirerei einen Antheil habe, energisch verwahrt. So lange die Czechen aus ihrem Geiste heraus die Kirche reformiren, so lange diese Hussiten, Taboriten, Calixtiner, Utraquisten und Picarden auf ihre Weise den Katholiscismus reinigen wollen, kommt nichts als blutiger Hader und Bürgerkrieg, als Mord und Brand dabei heraus. Was hätte mit einem Procop oder Ziska ein Martin Luther gemeinsam? Erst als die Czechen sich um Belehrung und Schutz zu dem deutschen Lutherthume flüchten, da keimen wenigstens einzelne gute Früchte aus dieser Verbindung hervor. Luther berichtet selbst im Jahre 1519, daß ihm aus Böhmen seine zehn Gebote und das Vaterunser, in böhmische Sprache übersetzt, zugekommen seien.

Die böhmischen Stände bieten ihm im Jahre 1522 ein Asyl an, und Luther antwortet ihnen, er wäre schon längst und gern nach Böhmen gekommen, aber er wolle den Papisten den Triumph nicht gönnen. Der böhmische Name sei bei dem deutschen Volke „nicht mehr“ verachtet, und er hoffe, es werde noch dahin kommen, daß Deutsche und Böhmen gleichmäßig zu dem Evangelium stehen. Wiederholt erscheinen Gesandtschaften der czechischen „Brüder“ bei Luther in Wittenberg; er verhandelt mit ihnen über Glaubensartikel, und da er sich über die „dunkle und barbarische Sprache der Böhmen“ beschwert, sehen sich die „Brüder“ veranlaßt, ihre Schriften für Luther ins Lateinische zu übersetzen. Die czechischen „Brüder“ sind es auch, an die Luther seine Schrift „vom Anbeten des Sacramentes“ richtete.

Es sind dies, wie gesagt, Zeichen und Keime, daß die Czechen so viel Selbsterkenntniß sich anzueignen im Begriffe sind, um einzusehen, daß von ihnen allein keine epochemachende Bewegung, keine Förderung der Welt ausgehen kann und daß es ihnen zum Heile gereicht, willig die Überlegenheit der Deutschen anzuerkennen. Aber der Deutschenhaß überwuchert bei ihnen Alles. Plötzlich reitet sie der Hochmuth, und sie erlassen im Jahre 1615 das bereits oben erwähnte Sprachenzwangsgesetz, durch welches alles Deutsche in Böhmen mit Füßen getreten wird. Die Gegenreformation mit ihrem entsetzlichen Elend ist ihre gerechte Strafe. Und dann wird es auf volle zwei Jahrhunderte von dem Czechenthum stille.

Da entdeckt im Jahre 1817 Hanka die bekanntlich gefälschte Königinhofer Handschrift, und nun wuchert plötzliche ein ganzer Wald von czechischen Lyrikern und Dramatikern, von czechischen Geschichtsschreibern und Alterthumsforschern aus dem bis dahin so spröden böhmischen Erdreiche empor. Schafarik, der Slovake, kommt nach Prag, um daselbst sein System der slavischen Alterthumskunde aufzustellen; Palacky beginnt als böhmischer Landeshistoriograph in deutscher Sprache seine Geschichte Böhmens zu schreiben, ein großartig angelegtes und mit mancherlei gründlichen Forschungsergebnissen angefülltes Werk, aber von gehässiger deutschfeindlicher Tendenz, sodaß es eine Art von Unschicklichkeit ist, daß ein solches Buch sich der deutschen Sprache bedient.

Noch hält man diese ganze Bewegung lediglich für eine literarische; der nicht einmal ein besonders günstiges Horoskop gestellt wird. Noch kann (im Jahre 1842) ein gewiegter Kenner der slavischen Literaturen, der Pole Adalbert Cybulski, der an der Breslauer Universität über das geistige Leben unter den Slaven Vorlesungen hält, ein fürchterlich wegwerfendes Urtheil über czechische Sprache und Literatur fällen. Jüngst erst sind diese Vorlesungen im Drucke erschienen, und es ist nicht ganz überflüssig, die Kritik über das czechische Geistesleben ihnen zu entnehmen. Professor Cybulski also sagt:

„Während des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ist die Literatur der Czechen im eigentlichen Sinne des Wortes zu Grunde gegangen; ihre Sprache, die neben der altslavischen die ältesten und schönsten Denkmäler besitzt, ist während der letzten zwei Jahrhunderte zu einer Bauernsprache herabgesunken. Ihre Nationalität, durch die widrigen Schicksale in ihrem Innersten angegriffen, schien dem deutschen Elemente Platz machen zu sollen, als einige patriotische Männer es unternahmen, den Geist derselben von Neuem zu beleben, die Sprache und Literatur aus ihrer Erniedrigung zu reißen und ihr den vaterländischen Boden wiederzugeben. Die Böhmen sind unter den Slaven das fleißigste Volk. Es ist unglaublich, was sie seit etwa zwanzig Jahren; bei geringen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 836. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_836.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)