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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


worden, auf dem sich Sand- und Marschboden ablagerte; bei einer folgenden Hebung der Küste wurde das Ganze gleichfalls gehoben, die Sand- und Humuslast preßte aber das Torflager darunter zusammen und sank in Folge dessen unter das Niveau des Meeres. Eine tief in’s Land hereinbrechende Sturmfluth wühlte sich dann in die untenliegende Torfschicht ein, hob sie und zog so der darauf ruhenden Marschlandschaft gleichsam den Boden unter den Füßen weg. So entstanden die Meerbusen vom Jahdebusen bis zur Zuidersee. Manchmal wurden von diesen zerstörten Strecken zusammenhängende Theile durch die See fortgetragen und anderwärts auf die Küste geworfen, wie es z. B. den Eiderstedtern in der Marcellusfluth von 1300 erging, denen sich ein Torflager auf ihre Aecker legte, um das sich dann ein Proceß mit den früheren Eigenthümern des Torflandes auf Nordstrand entspann.

Wenn wir nun an die chronologische Zusammenstellung der hauptsächlichsten Sturmfluthen herantreten, machen sich zunächst einige allgemeine Gesichtspunkte geltend.

Bei einem Ueberblicke über die Reihenfolge der Sturmfluthen tritt die Thatsache hervor, daß bis zur Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts Zahl und Umfang der Katastrophen zu-, von da an abnimmt. Es wäre nun ein großer Irrthum, dies einer Veränderung der elementaren Gewalten zuzuschreiben. Die Erklärung dieser Thatsache liegt vielmehr in der früheren Unzulänglichkeit der Deiche bei zunehmender Bedeichung und Besiedelung des Landes. War es anfangs mangelhafte Organisation, Mangel der Mittel oder auch theilweise Trägheit, so kam später, wo man dem Deichbau die eingehendste Sorgfalt widmete, eine wirkliche Unkenntniß der Zulänglichkeit des Deiches hinzu, wofür uns ein recht deutliches, geradezu tragisches Beispiel von der nordfriesischen Insel Nordstrand überliefert worden ist. Nachdem Nordstrand in der Fluth von 1615 furchtbar mitgenommen worden war, baute man die Deiche fester und höher, sodaß der Deichgraf, nach Vollendung der Arbeiten, den Spaten einstieß mit dem kecken Rufe: „Trotz nun, blanke Hans!“ Und die See nahm die Herausforderung an; wenige Jahre darnach brach sie an vierundzwanzig Stellen zugleich in die Deiche ein und verwüstete die Insel so, daß nur noch geringe Ueberreste in unseren Tagen bestehen.

Eine anderweitige auffallende Thatsache ist die, daß besonders verheerende Fluthen im Laufe der Jahrhunderte an gewissen Tagen wiederkehren, sodaß diese letzteren eine düstere Bedeutung erhielten und zu Buß- und Bettagen wurden. So sind am „St. Gallus-Tag“ sieben große Fluthen verzeichnet, weshalb man in ganz Friesland den 16. October als großen Unglückstag feierte. Schlimm ist auch „Allerheiligen“, worauf der folgende Vers deutet:

„Allerhiligen Tag
Freßland wohl beklagen mag.“

Diesen Unglückstagen schließen sich noch an Weihnachten, die heiligen drei Könige, der Tag der heiligen Cäcilie, Walpurgis und einige mehr. Besonders hohe Fluthen haben sich im Gedächtniß des Volkes unter dem Namen der „Manntränke“ erhalten, insofern die Menschen „Mann an Mann“ ertranken. Der Glaube, alle vierzig Jahre breche eine große Fluth herein, steht mit der Geschichte nicht gerade im Widerspruche. Diese Wiederholung an bestimmten Tagen hängt wesentlich damit zusammen, daß bei Voll- und Neumond, besonders in Verbindung mit einem Umschlagen des Sturmes aus Südwest nach Nordwest, die verderblichsten Fluthen einzutreten pflegen.

Die früheste, in ihren Wirkungen großartigste Sturmfluth hat keines Menschen Hand verzeichnet; sie hat sich selbst ihre Geschichte in der Gestaltung der Küsten geschrieben: Sie brach das felsige Bindeglied zwischen Frankreich und England; sie schuf jene Seestraße, die wir heute den Canal nennen, und streute den Schutt der einbrechenden Mauer hundert Meilen weit in’s Land. Aber wenn auch kein Mensch uns von diesem gewaltigen Erreignisse berichtet, Menschen gab es doch schon damals; denn die Spuren ihres Daseins finden wir zwischen jenem Schutt. Eine Sage deutet – um dies nebenbei zu bemerken – auf jene Zerstörung hin, indem sie erzählt, eine englische Königin habe, um sich an einem dänischen Könige zu rächen, die Scheidewand durchgraben lassen, und so Land und Leute des Dänenkönigs vernichtet.

Die erste sichere Erwähnung einer Sturmfluth knüpft an das Erscheinen der Germanen auf der Weltbühne, an die Invasion der Cimbern und Teutonen im römischen Reiche an. Von dieser, speciell von der Wanderung jener Stämme, berichtet Strabo, sie solle durch eine große Fluth veranlaßt worden sein, doch, setzt er ungläubig hinzu, sei dies nicht anzunehmen, da ja Fluth und Ebbe eine ganz regelmäßige Erscheinung sei. Er wußte also offenbar nichts von Sturmfluthen, um so deutlicher spricht hier aber die Ueberlieferung einer solchen aus seinen Worten. Aus den späteren Zeiten besitzen wir keine oder nur ungenaue Nachricht über Sturmfluthen; erst mit dem elften Jahrhundert, das drei größere Fluthen aufweist, beginnt die unheimliche Reihe der uns mehr oder weniger genau überlieferten Katastrophe.

Das zwölfte Jahrhundert bringt namentlich in seiner ersten Hälfte eine Reihe schwerer Fluthen; so 1144, wo die See zwölf Meilen tief in’s Land drang, und 1162, die erste „Manntränke“, welche viele Tausende von Menschen und Massen von Vieh ertränkte. Gegen Ende des Jahrhunderts nimmt die Bildung der Zuidersee ihren Anfang.

Das dreizehnte Jahrhundert, ein an mächtigen Sturmfluthen besonders reiches, beginnt und endet mit furchtbaren Fluthen. 1216 kam eine solche mit schrecklicher Gewalt über die Marschen; sie raffte auf Nordstrand allein 10,000 Menschen fort, und schon am 16. November 1219 wüthete dann die Marcellusfluth, welche ihrer Vorgängerin nichts nachgiebt und wohl ebenso viel Menschen ertränkte. Jahr auf Jahr neue Fluthen. Darunter die Weihnachtsfluth von 1277, in welcher die Bildung des Dollart beginnt und dreißig Ortschaften zu Grunde gehen. Das begonnene Zerstörungswerk vollendet die zehn Jahre später, am 14. December 1287, hereinbrechende Sturmfluth, welche der Zuidersee und dem Dollart ihre heutige Gestalt gaben, wobei 80,000 Menschen ihr Leben verloren. Aber als hätte das verderbliche Jahrhundert mit der verderblichsten Fluth schließen wollen, so kam am 16. Januar 1300 die zweite Marcellusfluth, welche vier Ellen hoch über die höchsten Deiche schwoll und bei der in Schleswig allein gegen 7600 Menschen zu Grunde gingen, auf Helgoland Alles bis auf zwei Kirchen zerstört wurde.

1330 versinkt in Nordfriesland Rungholt mit sieben Kirchspielen, und andere Fluthen folgen in der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts, während zugleich der schwarze Tod Verderben über die Lande trägt. Dann bricht um die Mitternacht des 8. December 1362 die große Manntränke herein; in Nordfriesland gehen dreißig Kirchspiele, in Ostfriesland Torum mit fünfzig Ortschaften zu Grunde, und dieser Fluth folgen im Laufe des Jahrhunderts noch sechs weitere.

Das fünfzehnte Jahrhundert bringt elf größere Fluthen, namentlich die vom 1. December 1421, in welcher an der Rheinmündung der Biesbosch entstand, wobei 72 Dörfer und 100,000 Menschen untergingen, und die Fluth von 1425, bei welcher 10,000 Menschen an den Elbufern ertranken.

Das sechszehnte Jahrhundert beginnt mit der Antoniusfluth von 1511, bei welcher die Fluthen in die alte Wesermündung einbrechen und den Jahdebusen bilden, drei Dörfer vernichtend. Es folgt die Manntränke vom 2. November 1532; dann aber stehen wir vor der schrecklichsten Fluth aller Jahrhunderte – der Allerheiligenfluth von 1570, in welcher, mitten in der Nacht losbrechend und achtundvierzig Stunden wüthend, der Ocean sich über die ganze Küste von Holland bis Jütland warf; alle Deiche wurden gebrochen; nichts widerstand, gegen 400,000 Menschen ertranken, und jahrelang lagen da, wo einst blühende Marschen waren, öde Wüsteneien, weil Niemand vorhanden war, der die Deiche wieder aufrichten, das Land wieder bebauen konnte.

Es folgt das siebenzehnte Jahrhundert mit elf größeren Fluthen, vor Allem die schwere vom 11. October 1634, welche fast ganz Nordfriesland zerstörte und ihm im Wesentlichen die jetzige Gestalt verlieh; 44 Deichbrüche fanden statt; 20 Kirchspiele gingen zu Grunde; 15,000 Menschen ertranken.

Eine höchst wunderliche Fluth – man könnte sie in Vergleich mit den anderen eine gemüthliche nennen – erschien 1630 in den Wesermarschen; an einem schönen Sommertage stieg das Wasser still höher und höher, überströmte den Deich, ruinirte die Ernte und zog sich gerade so still wieder zurück.

Im achtzehnten Jahrhundert ist es hauptsächlich die schreckliche Weihnachtsfluth von 1717, welche über die gesammte Küste schweres Unheil brachte; 15,000 Menschen gingen zu Grunde. Drei andere hohe Fluthen folgten im Laufe des Säculums.

In unserem Jahrhunderte ist es namentlich die Fluth in der Nacht des 3. Februar 1825, welche noch in dem Gedächtniß aller

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 840. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_840.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)