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verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Schicksal, das ihm schon in seiner Kindheit herbe Eindrücke die Fülle und auch in seinem späteren Leben mancherlei schmerzliche Erfahrungen gebracht, wesentlich diese Richtung mit bestimmt. Daher auch jene Herbigkeit und Bitterkeit, der scharfe, satirische Zug, den wir oft bei ihm finden, daher aber auch die tiefe psychologische Wahrheit, die erschütternde, überwältigende Kraft seiner Darstellung.

Die oft gerügte Vorliebe Chamisso’s für das Außergewöhnliche, besonders das außergewöhnlich Schreckliche, findet zudem, wie sein Biograph Hitzig hervorhebt, ihre Erklärung darin, daß er weit mehr als von „unserer europäisch-civilisirten Welt“ sich angezogen fühlte von Völkern und Kreisen, „wo es noch rohe Tugend und rohes Laster giebt“. Ueberdies, glaube ich, zeigt sich in diesem excentrisch-realistischen Zuge eine Spur von des Dichters angeborenem französischem Wesen, das auch sonst zuweilen als eigenthümlich lebendige, geist- und witzreiche Laune in seiner Poesie zu Tage tritt. Wohl ist er ein deutscher Dichter, aber wie er trotz seiner Gewandtheit im Deutschen doch zuweilen den Ausdruck suchen mußte, wie er in manchen Dingen von seiner Muttersprache nie losgekommen (so zählte er z. B. immer französisch), wie er, der sonst ohne besondere Veranlassung nie französisch sprach, in der Nacht vor seinem Tode beständig in dieser Sprache phantasirte, so verleugnet er auch in seinen Dichtungen nicht völlig sein französisches Blut. Die Behandlung solcher die Phantasie aufregenden, außergewöhnlichen Stoffe, wie sie z. B. „Die Löwenbraut“, „Der Invalide im Irrenhaus“, „Der Graf und der Leibeigene“, „Die Giftmischerin“ und andere zeigen, ist bei den Franzosen beliebt. Uebrigens zeigt, mit jenen verglichen, unser Dichter, der Deutschgewordene, fast durchweg tieferen sittlichen Gehalt. Manchmal erinnert er an Béranger, den er ja mit seinem Freunde Gaudy vortrefflich verdeutscht hat, wie denn, meine ich, z. B. das mit seinem grimmigen Proletariertrotze mächtig packende Gedicht „Der Bettler und sein Hund“, in’s Französische übersetzt, für ein Werk des berühmten chansonnier gelten könnte.

Wie unser Dichter – auch hierin den Franzosen ähnlich, aber auch hier von tieferer, edlerer Auffassung – es versteht, scheinbar der Poesie widerstrebende Stoffe aus dem täglichen Leben poetisch aufzufassen und zu verklären, zeigt das wunderschöne Gedicht von der „Alten Waschfrau“. In seinen ernsten Balladen läßt sich meist eine bestimmte sittliche Idee erkennen. Da zeigt er uns die Macht des schuldbeladenen Gewissens; da sehen wir die schändlichste Untreue und die freche Willkür des Gewaltigen; da führt er uns den schnöden Undank und die unersättliche Habsucht vor und ihre wohlverdiente Strafe. Neben solchen tiefernsten Gedichten begegnen wir in Chamisso’s Werken poetischen Fictionen, in denen des Dichters Satire in scheinbar harmlosem Gewande auftritt, wie unter Anderem in der „tragischen Geschichte“ vom Zopf, der „hinten hing“, in welchem überaus drolligen Liede das Zopf- und Philisterthum aller Art einen kräftigen Hieb erhält. Der wirklich harmlose Humor aber ist, von einigen Schnurren abgesehen, in Chamisso’s Gedichten selten. Anders in seinen zahlreichen Briefen. Da sehen wir oft den ernsten Mann harmlos lächeln und scherzen, wie denn auch nach Hitzig’s maßgebender Darstellung eine wahrhaft kindliche Unschuld und Reinheit ein Hauptgrundzug seines Wesens war.

Noch müssen wir der in Terzinen abgefaßten poetischen Erzählungen gedenken. Schaurig-düstere, ergreifende Stoffe sind es, die uns der Dichter in dieser höchst wirkungsvollen, von ihm meisterhaft behandelten Strophenform vorführt. Von allen diesen Gedichten ist das bei weitem bedeutendste „Salas y Gomez“, übrigens auch das Gedicht, welches Chamisso’s Ruhm in den weitesten Kreisen begründete. Da sehen wir auf nackter Klippe, auf die ihn aus dem vollsten Besitze irdischen Glückes heraus der Schiffbruch geworfen, einen Menschen, von aller Welt verlassen, allein mit seinem Schmerz, seiner Verzweiflung, seiner immer getäuschten und doch immer wieder auf’s Neue erwachenden Hoffnung. In die Platten des Schieferfelsens ritzt er seine Zeichen für jeden verflossenen Tag, jedes vollendete Jahr, bis er endlich, nachdem er das fünfzigste Jahreszeichen eingegraben, in müder Resignation abläßt, zu rechnen und zu hoffen. Noch einmal mit brechendem Auge sieht der Greis in ein Menschenantlitz, noch einmal hört er Menschenstimmen; er will sich noch aufrichten, will sprechen – „umsonst – er sinkt zurück; er hat gelebt“. Wo er so lange gelitten, da lassen, die ihn gefunden, seinen Leichnam liegen, mit sich aber nehmen sie, als des Todten Vermächtniß, die Schiefertafeln, auf denen er die Geschichte seines langen Lebens und Leidens verzeichnet hat. Das Grauen der Einsamkeit und des ewigen, öden Einerlei, das Ringen eines Menschenherzens zwischen Furcht und Hoffnung, das wilde Rasen der Verzweiflung und endlich die ruhige Ergebung in den unabänderlichen, höheren Willen, durch welche das Ganze einen versöhnenden Abschluß erhält – das alles ist hier in einer Darstellung voll tiefer psychologischer Wahrheit in erschütternder, großartiger Weise zum Ausdruck gebracht.

Chamisso ist eine durchaus eigenartige Erscheinung; nicht blos weil er, der Franzose, ein deutscher Nationaldichter geworden: eigenartig ist auch sein bewegtes Leben: eigenartig ist seine Poesie, in der die verschiedensten Elemente wunderbar sich mischen. Er läßt sich nicht zu anderen Dichtern gruppiren; er muß für sich betrachtet werden. Und wie sein Leben vollen Anspruch auf unsere Theilnahme hat, so müssen wir ihn selbst nicht nur hochachten als Charakter, wir müssen ihn auch lieb gewinnen, den ernsten Mann, mit den silbernen Locken und dem jugendfrischen Herzen, in dem die edelste Milde wohnt, ihn, der als Flüchtling zu uns gekommen und, Liebe mit Liebe lohnend, lebenslang mit ganzer Seele an seiner zweiten Heimath gehangen, der es verstanden, in unsere Sprache, in unser Wesen so ganz sich einzuleben, daß er uns in’s Herz hinein Weisen gesungen, die zum Schönsten gehören, was wir unser nennen.

Hermann Schults.




Schule und Nervosität.

Zur Beleuchtung der Ueberbürdungsfrage vom irrenärztlichen Standpunkte.
Von Fr. Paul Hasse.[1]

Wie geographische Lage und Klima, Lebensweise und Beschäftigung, Abstammung und Erziehung einen bestimmenden Einfluß auf die Entwickelung der Völker und des Individuums ausüben, so auch auf die Formen der Krankheiten, mit denen sie behaftet sind. Die Geschichte zeigt uns dies in schlagender Weise. Nicht allein, daß Krankheiten, welche in alten Zeiten zu einer weitverbreiteten Plage geworden, heute gar nicht mehr existiren, und umgekehrt, daß Krankheiten, welche zu unserer Zeit Verderben bringend die Länder durchziehen, in früheren Jahrhunderten, ja selbst vor Jahrzehnten völlig unbekannt waren – nein, auch der Charakter einer und derselben Krankheitsform wird im Laufe der Zeit oft genug ein ganz anderer.

Die Nervosität ist das charakteristische Merkmal unserer Zeit. Wohin wir auch blicken, in welche Länder, in welche Kreise der menschlichen Gesellschaft, überall finden wir dieselben Erscheinungen: Eile, Hast, Unruhe; überall die Anwendung derselben Mittel, den wachgewordenen Leidenschaften neue Nahrung zuzuführen, den entstandenen Kitzel durch immer neue Reize wieder zu beleben.

Es erscheint mir überflüssig, den Lesern der „Gartenlaube“ diesen Zug im Bilde der Zeit noch weiter auszumalen, ihnen an Beispielen nachzuweisen, bis zu welcher schreckenerregenden Ausdehnung die Nervosität in den letzten Decennien um sich gegriffen hat. Diese Nervosität, diese abnorme Nervenerregbarkeit und Empfindlichkeit spiegelt sich auch in den verschiedenen Formen der Krankheiten

  1. Medicinalrath Dr. Fr. Paul Hasse in Königslutter hat bekanntlich auf der letzten Versammlung der Irrenärzte zu Eisenach einen neuen Anstoß zur Prüfung dieser Frage gegeben, welche er auch in seiner vor Kurzem erschienenen Broschüre: „Ueberbürdung unserer Jugend etc.“ (Braunschweig, Vieweg) behandelte. Auch in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 13. December 1879 wurde die Ueberbürdungsfrage in die Debatte hineingezogen. Der preußische Cultusminister von Puttkamer glaubte auf Grund der von den Directoren preußischer Irrenanstalten abgegebenen Gutachten gegen die in Eisenach ausgesprochenen Schlußfolgerungen Einwand erheben zu müssen, während andere Abgeordnete sich auf den Standpunkt unseres Verfassers stellten. Im Ganzen wurde aber die Gefahr der Ueberbürdung für das geistige und leibliche Wohl der Schüler anerkannt, welcher Ansicht sich die denkenden Beobachter unter unseren Lesern ohne Zweifel anschließen werden. D. Red.
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