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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Anerkennung denen gegenüber verpflichtet, welche alle ihnen durch Zeitumstände und Vorurtheil des Volkes entgegengestemmten Schwierigkeiten und Hemmnisse mit Muth, Energie und Ausdauer zu überwinden vermochten und diese Anerkennung gebührt auch in hohem Maße der drittältesten deutschen Lebensversicherungs-Gesellschaft, der sogenannten „alten“ Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig, die am ersten Januar 1881 das fünfzigste Jahr ihres Bestehens feiert. Wenn wir, um den Geist, der dieses Institut in’s Leben rief und groß zog, kennen zu lernen, einen Gang durch die Geschichte desselben machen, so geschieht dies nicht etwa in der Absicht, diese eine Anstalt vor allen anderen hervorzuheben – das wäre eine plumpe Reclamemacherei – sondern weil wir damit den hindernißreichen Entwickelungsgang auch der anderen, namentlich älteren Lebensversicherungs-Gesellschaften zugleich mit dargestellt zu haben glauben. Ueberdies feiert die Leipziger Anstalt ihre Geschichte durch eine eigene Festschrift.[1]

Wer in unserem Jahrhundert auf „ruhige Zeiten“ zum Beginn eines größeren Unternehmens hätte warten wollen, der würde nie dazu gekommen sein. Auch die Gründung der Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft wurde nicht durch „ruhige Zeiten“ in’s Dasein gerufen. Die Nachwehen der Franzosenkriege waren noch nicht verwunden, und mit den politischen Zuständen (man denke an das Congreßjahr 1819!) sah es trostlos aus; dennoch schöpfte man frischen Muth, weil im Verlaufe der zwanziger Jahre die alles Verkehrsleben so schwer drückenden Zollschranken im Innern der deutschen Bundesstaaten sich lockerten, besonders aber weil die glücklichen Speculationen des Auslandes, hauptsächlich der Engländer, in Deutschland endlich zur Nacheiferung reizen mußten. Nachdem nun die 1822[WS 1] in Leipzig gegründete „Feuerversicherungs-Anstalt“ guten Bestand gezeigt hatte und die fünf[WS 1] Jahre später begründeten Lebensversicherungs-Unternehmen in Gotha und Lübeck rasch aufgeblüht waren, fanden sich auch in Leipzig die rechten Männer zu einer gleichen Gründung zusammen.

An ihrer Spitze stand, als Anreger, ein Mann, wie er zu einer solchen Gründer-Arbeit nicht geeigneter hätte gefunden werden können, ein Mann aus der altpreußischen Charakterschule, „knapp“ und „stramm“, unermüdlich in der Arbeit, gewissenhaft bis in’s Kleinlichste, von zähester Ausdauer und bewundernswürdiger Selbstlosigkeit: der Kaufmann Johann Friedrich August Olearius. Am 28. Februar 1789 in Magdeburg geboren, war er in Leipzig kaufmännisch gebildet worden und hatte dann mehrere Jahre in einem großen Geschäfte in Bordeaux gedient, das zugleich die Vertretung einer englischen Lebensversicherungs-Anstalt führte. In das ganze innere Getriebe der letzteren eingeweiht, kam er nach Leipzig zurück und erkannte nun sofort, daß diese Stadt mit ihren großartigen Geschäfts-Beziehungen geeignet sei, wie wenige, zum Sitze einer solchen Anstalt. Auf seine Aufforderung schlossen sich diesem Leipziger „Arnoldi“ aus dem Kreise des Handelsstandes und der Wissenschaft Männer von angesehenem Namen an, die sich, nachdem die von ihnen entworfenen Statuten von der Staatsregierung genehmigt worden waren, am 26. März 1830, als das Directorium der neuen Lebensversicherungs-Gesellschaft auf Gegenseitigkeit constituirten.

Den Statuten hatte man die Gothaischen zu Grunde gelegt, namentlich nahm man dieselben Prämiensätze für einfache Versicherungen auf den Todesfall an, rückte jedoch das Aufhören der Prämien-Zahlungsverpflichtung vom neunzigsten auf das fünfundachtzigste Lebensjahr zurück und setzte die bisherige niedrigste Versicherungssumme von 500, um Unbemittelten leichter zugänglich zu sein, auf 300 Thaler herab. – Zum fungirenden Director ernannte das Directorium Herrn Olearius mit einem Jahresgehalt von 600[WS 1]  Thalern, gab ihm auch einen Gehülfen, schärfte ihm jedoch sorgfältigste Sparsamkeit ein. Nach neun Monaten betrugen sämmtliche Gründungskosten 4725 Thaler, die mit 315 Thaler jährlich in 15 Jahren abgetragen werden sollten; „falls jedoch die Gesellschaft nicht in Wirksamkeit treten könne“, – lautete wörtlich der Beschluß, „so seien die erwachsenen Ausgaben von sämmtlichen sieben Mitgliedern des Directoriums oder deren Erben zu gleichem Antheil zu decken“. Das waren auch „Gründer“. Die berüchtigten Herren dieses Titels im verflossenen Jahrzehnt haben sich an ihnen natürlich kein Beispiel genommen.

Wie dem Gothaischen und Lübecker Unternehmen stemmte sich auch dem Leipziger manches Hemmniß entgegen: zunächst der Mangel an Vertrauen auf die Verheißungen, mächtig unterstützt von dem Mangel an Verständniß des Wesens der Lebensversicherung und verbunden mit der herrschenden Volksscheu vor dieser neuen Art „Testamentmacherei“; dann der Umstand, daß gerade in den Kreisen, für welche das Institut das dringendste Bedürfniß hätte sein müssen, in den Kreisen der mittleren Beamtenwelt, die Mittel und in denen der Gewerbtreibenden, die mit ihren Sterbecassen damals noch vollständig zufrieden waren, das Bedürfniß darnach fehlte; endlich drittens das alte Erbübel der Bevorzugung des Fremden, denn diejenigen, welchen die Mittel zum Aufwand für eine Lebensversicherung zu Gebote standen, zogen noch in großer Zahl die längst eingeführten englischen Anstalten den deutschen vor.

Trotz alledem beschloß die Direction der Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft, am 1. Januar 1831 mit der Ausfertigung der Versicherungsscheine zu beginnen, und zwar eröffnete sie ihr Geschäft mit 184 Personen und einem Versicherungsbetrag von 256,900 Thaler. Am Schlusse des ersten Geschäftsjahres zählte man schon 454 Personen mit einer Versicherungssumme von 668,500 Thaler. Das Wachsthum hatte demnach mit Glück begonnen. Aber auch die erste eigene Erfahrung stellte sich ein: die Cholera drohte der Versicherungscasse mit einem schweren Schlage. Die Leipziger Anstalt beschränkte ihre Abwehrmaßregeln darauf, daß sie vor der Hand aus Cholera-Gegenden keine neuen Versicherungen aufnahm. Die damit bewiesene Vorsicht schien das öffentliche Vertrauen gehoben zu haben; denn im dritten Geschäftsjahre stieg die Personenzahl auf mehr als 1000 und die Versicherungssumme betrug über anderthalb Millionen Thaler.

Im vierten Jahre mußte das Directorium daran denken, daß der Paragraph 20 der Statuten ihm vorschrieb, mit Anfang des sechsten Versicherungsjahres den entbehrlich zu erachtenden Theil des angesammelten Ueberschusses zu vertheilen. Dieser Ueberschuß ergab sich dadurch, daß die durch Todesfälle zahlbar gewordene Versicherungssumme erheblich geringer gewesen war, als nach der in England und auch in Gotha am bewährtesten gefundenen und deshalb auch in Leipzig den Berechnungen zu Grunde gelegten Sterblichkeitstafel der Londoner „Equitable Society“ erwartet werden durfte. Der technische Ausdruck für letztere Erscheinung ist „Untersterblichkeit“, während man das Gegentheil mit „Uebersterblichkeit“ bezeichnet. Nachdem vor Allem nach Maßgabe der reinen Prämien (Nettoprämien) Reservetafeln aufgestellt und darnach die Reserven selbst bestimmt waren, konnte das Directorium mit Zustimmung des Gesellschafts-Ausschusses die erste Vertheilung einer Dividende von 25 Procent der im Jahre 1831 eingezahlten Jahresbeiträge beschließen.

Dieser Erfolg des Unternehmens vermehrte das Wachsthum der Anstalt erheblich, und auch die Sterblichkeit gestaltete sich in den nächsten Jahren günstig, bis 1839 und 1840 plötzlich eine Uebersterblichkeit eintrat, welche alle Ersparungen der Vorjahre aufzehrte und noch Mehrausgaben erforderte.

Um die Lebensversicherung möglichst gemeinnützig zu machen, hatte man die Aufnahme in dieselbe thunlich erleichtert, namentlich die erforderlichen ärztlichen Untersuchungen den Hausärzten der betreffenden Personen überlassen. Man hatte nicht bedacht, daß dies zu betrügerischen Speculationen förmlich einlud, und so haben denn diese auch bei der Leichtigkeit der Ausführung in Folge der – Gefälligkeit einiger Aerzte gegen ihre Clienten in einzelnen Gegenden, namentlich in den Ostseeprovinzen und ganz besonders in Königsberg, mit den zunehmenden Erfolgen bald Dimensionen angenommen, welche der Gesellschaft mit großen Verlusten drohten. In Königsberg hatte sich ein förmliches Geschäft mit dem betrügerischen Ankauf und Abschluß von Lebensversicherungs-Policen entwickelt. Die Speculanten dort fanden nicht nur allezeit Personen, deren Körperbeschaffenheit oder Lebensweise einen frühen Tod versprach, sondern auch Aerzte, welche sich an einer solchen Ausbeutung der Lebensversicherungen betheiligten oder sie wenigstens

  1. „Die Begründung und fünfzigjährige Wirksamkeit der Lebensversicherungs-Gesellschaft in Leipzig“. – In der „Gartenlaube“ ist das Lebensversicherungswesen in folgenden Artikeln behandelt worden: „Eine Lebensversicherung. Erzählung, aus den Papieren eines Berliner Advocaten“, 1857, S. 309 ff.; – „Die Gothaische Lebensversicherungs-Bank.“ Von Walesrode, 1865, S. 12, 123 und 152; – „Die Lebensversicherung auf der ganzen Erde“, 1869, S. 176, und in drei Artikeln von F. W. Gallus: „Eine Bitte an die deutschen Frauen“, 1875, „Abgelehnt“, das., S. 843, und „Mißbrauch der Lebensversicherung“, 1876, S. 92.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_015.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)