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verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Werth haben soll, und zwar einen höheren, als ihn die treue und genaue Aufzeichnung dessen, was dem Volksmunde unmittelbar abgelauscht ist, immerhin besitzt, so setzt sie ein umfassendes, weit über die Grenzen des betreffenden Landes hinausgehendes Wissen voraus. Für die richtige Behandlung dieser vom Volksgeiste durchdrungenen Dichtungen ist es aber andererseits nicht minder nothwendig, daß der Forscher das eigenthümliche Wesen seines Volkes aus dem Grunde kennt, und daß er mit den Naturverhältnissen, die es bedingen, vertraut ist.

Diese durchaus unerläßlichen Voraussetzungen für die wissenschaftliche Seite der Thätigkeit eines Märchensammlers besitzt Asbjörnsen in hohem Grade. Er hat aber nicht blos ein Material gesammelt, welches für die vergleichende Märchenerforschung von Bedeutung ist, sondern er hat den Stoff auch der gebildeten Leserwelt in einer Form vorgelegt, die ebenso kunstvoll wie echt volksthümlich ist. Hier genügte es nicht, die Märchen ganz so in der Fassung wiederzugeben, wie der Sammler sie seinen Quellen entnahm; denn seine Gewährsmänner waren meistens ganz ungebildete Leute, und auch die Zeiten waren nicht spurlos an diesen im Volksmunde bewahrten Dichtungen vorübergegangen. Um die Aufgabe, die Asbjörnsen sich gestellt hatte, in der rechten Weise zu lösen, war es nothwendig, daß er sich so in den Geist des Volkes und der Volksdichtung hineingelebt hatte, daß er, aus dem vollen Verständnis; derselben heraus, der ursprünglichen Form des Märchens, trotz aller willkürlichen Zusätze und verschiedener Versionen in den einzelnen Gegenden des Landes, auf den Grund gehen konnte. Nur wenn man, wie Asbjörnsen, die Bildung des Gelehrten und das unmittelbare Gefühl des Poeten für die idealen Forderungen der Dichtung in sich vereinigt, kann man den Schatz der Volkspoesie heben und seinem Volke das Märchengold zurück geben, welches so oft mit Moos und Staub überdeckt ist, daß es sich für den Uneingeweihten wie werthloses Gestein ausnimmt.

Von Asbjörnsen’s poetischer Begabung legt jede seiner „Waldgeistersagen“ Zeugniß ab. Während die „Volksmärchen“ sich unmittelbar an die Volkstradition anschließen, führen die „Waldgeistersagen“ in dichterischem Gewande dem Leser eine Reihe von Bildern aus der Natur und dem Volksleben vor, und die Bilder sind mit wirkungsvollster realistischer Sicherheit in allen Einzelnheiten entworfen, zugleich aber von einer solchen Stimmung durchdrungen, daß die alten Märchen und Sagen, denen sie als Rahmen und Hintergrund dienen, wie natürlich aus den Umgebungen hervortreten. Als Muster dieser Art können wir auf das auch in die illustrirte deutsche Ausgabe aufgenommene Stück „Eine Sommernacht im Krogwalde“ hinweisen. Mit wahrer Meisterschaft sind hier die Sagen mit der Schilderung der Gegend und der Personen verflochten, sodaß ein harmonisches, in hohem Grade stimmungsvolles Kunstwerk daraus entsteht. Und mehr oder weniger gilt dies von Allein, was Asbjörnsen von dieser Art geschrieben.

Die literarischen Verhältnisse Norwegens waren zu der Zeit, wo die Volks- und Waldgeistersagen erschienen, ganz eigenthümlicher Art. Bis 1814 war Norwegen bekanntlich mit Dänemark verbunden, und die gemeinschaftliche Literatur hatte ein durchaus dänisches Gepräge; ein exclusiv norwegisches Element war nur im Keime vorhanden. Als das Land dann seine Selbstständigkeit erhielt, versuchte man es alsbald, sich von der literarischen Verbindung mit Dänemark völlig frei zu machen. Die Voraussetzungen für die Entwickelung einer selbstständigen norwegischen Literatur fehlten aber gänzlich, und die Bestrebungen, eine solche zu schaffen, führten zunächst nur zu einer rhetorischen bombastischen Poesie, welche in der lächerlichsten Weise Norwegen als das herrlichste Land und seine Bewohner als die vortrefflichsten Menschen der Welt darzustellen sich bemühte. Erst in den dreißiger Jahren fing die Erkenntniß an sich geltend zu machen, daß eine norwegische Literatur nicht aus dem Nichts emporwachsen könne, und daß man, um ein ergiebiges Material zu beschaffen, die Vorzeit und das Leben des gemeinen Volkes gründlich erforschen müsse. Für diese Studien, welche die nationalen Eigenthümlichkeiten Norwegens nach allen Richtungen hin zu ergründen strebten, war Asbjörnsen’s literarische Thätigkeit, namentlich als Märchenerzähler, von der größten Bedeutung. Nachdem erst Asbjörnsen und sein Mitarbeiter Moe den Sinn ihrer Landsleute für die Natur und das Volk Norwegens geweckt hatten, fanden sie bald Nachfolger, welche von verschiedenen Seiten bis zum Kern eindrangen, und die poetische Literatur Norwegens schlug die Bahn ein, auf der sie einen hohen Grad von Originalität und eine stets wachsende Fülle erreichte. Björnson hatte Recht, als er in die Worte ausbrach: „Es wäre fürwahr nicht viel aus mir geworden, wenn Asbjörnsen nicht gewesen wäre,“ und die übrigen norwegischen Dichter der Jetztzeit könnten dasselbe sagen. Der Märchenerzähler ist auch für sie der Bahnbrecher gewesen.




Der Dresdener Todtentanz.

Eine kunsthistorische Skizze..

Schon um die Wende des dreizehnten Jahrhunderts machte sich in Deutschland bekanntlich jene Gährung bemerkbar, welche die neuen politischen und religiösen Ideen verbreitete, die im Beginn des sechszehnten Gestalt und Leben gewinnen sollten. Mit dem vierzehnten Jahrhundert begann eine Epoche des Übergangs, eine Zeit der Auflösung und Verwirrung aller sittlichen Anschauungen. Die bis dahin für heilig und unverletzlich gehaltenen Autoritäten, Kaiser und Papst, Geistliche und Ritter, waren zum Gegenstande schnöder Angriffe geworden, und unter ihrem heftigen Anprall war manche morsch gewordene Institution in Trümmer gesunken. In Folge dessen nahm die Zügellosigkeit im niederen Volk überhand; Jeder wollte seinen Platz an der reichbesetzten Tafel einnehmen; Recht und Sitte wurden mit Füßen getreten, und die Befriedigung sinnlicher Leidenschaften galt als das höchste Ziel menschlichen Strebens. In diese Zeit der Rechtlosigkeit und des Sinnentaumels brach das Schreckgespenst des schwarzen Todes hinein, gleich als wollte es die entartete Menschheit an die Eitelkeit aller irdischen Genüsse mahnen, und hielt, Elend und Hungersnoth im Gefolge, seinen schauerlichen Triumphzug durch Deutschland und das übrige Europa. Zu wiederholtem Male kehrte die Pest das dreizehnte und das ganze vierzehnte Jahrhundert hindurch wieder, eine unablässige Mahnung für das geängstigte Volk, an die letzten Dinge zu denken, und was keine menschliche Autorität vermocht hätte, brachte der unheimliche Sieger zuwege: die Rückkehr zu Gott und zum Ewigen. In den Kirchen wurden die Bilder des Todes errichtet, welche den Sinn der Andächtigen beständig auf die Vergänglichkeit alles Irdischen hinlenkten und zur Buße mahnten. In die geistlichen Schauspiele und in die feierlichen Reigentänze, welche unter dem Schutze der Geistlichkeit in den Gotteshäusern aufgeführt wurden, trat der Tod ein und spielte neben den Engeln und Heiligen seine furchtbare Rolle. Man wird ihn bei dieser Gelegenheit als vermummte Gestalt dargestellt haben, ohne sich um eine strengere Charakteristik viel zu kümmern. Dagegen fiel der bildenden Kunst, die sich des Gegenstandes ebenfalls schon frühzeitig bemächtigte, die Aufgabe zu, eine Personification des Todes zu erfinden, und sie stellte ihn so dar, wie er dem Auge des Menschen erscheint, als verwesten Leichnam. Statt der Ursache mußte also die Wirkung, statt des Todes der Todte eintreten. Aus dem Todten wurde allmählich ein entfleischtes Gerippe und daraus im Laufe des sechszehnten Jahrhunderts der Knochenmann, der uns noch heute als das Symbol des Todes gilt.

Das Mittelalter begnügte sich aber nicht mit dem Tode als einer Person. Der Tod ist mannigfaltig, und so stellte sich die menschliche Phantasie ein ganzes Heer von Todtengerippen vor, die unablässig auf der Jagd sind, um ihre Opfer in blühender Lebenslust wie die Jäger das Wild zu überfallen.

In jenen kirchlichen Reigentänzen traten, diesen Anschauungen zufolge, die Tänzer paarweise auf, immer ein Todter und ein Lebender, und um Abwechslung in den Zug der Tanzenden zu bringen, und andererseits auch die demokratische Idee des alles nivellirenden Todes zu versinnlichen, waren unter den Partnern der Todtengerippe alle Stände vom Kaiser und Papst bis zum krüppelhaften Bettler vertreten. Die Kunst ergriff, wohl direct durch die Kirche dazu aufgefordert, diese dramatischen Schaustellungen und hielt sie zu noch eindringlicherer Mahnung an passenden Orten fest. Die Wände der Klöster als der Stätten stiller Beschaulichkeit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_163.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)