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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)


Es ist die Macht der Reaction.

War es in den früheren Regungen der Reaction nur die große Lüge von der allein seligmachenden Kraft der kirchlichen Dogmen, dieser schlechteste, durch die Geschichte und das Gewissen gerichtete Bestandteil der Orthodoxie, welche gegen alle freien humanen Bestrebungen und gegen eine freie Geistescultur in’s Feld geführt wurde, so verbindet sich die Reaction der Gegenwart zugleich noch mit den schlechtesten Bestandteilen des Pietismus. Das geistige Unvermögen und die Gemüthsleere der starren Orthodoxie soll durch eine um so forcirtere pietistische Vereinsbetriebsamkeit verdeckt werden. Kirchliche Rechtgläubigkeit und pietistische Modefrömmigkeit reichen sich heute die Hand, um das Volk mit einem Netz von Bestrebungen zu umgarnen, die mehr oder weniger direct darauf abzielen, der clericalen Propaganda und den orthodoxen Parteiinteressen zu dienen.

Dabei übernimmt die kirchliche Reaction auch heute wieder wie ehemals die Führerschaft für die politische Reaction. Sie will der Welt einreden, daß der Bestand des Staates und der menschlichen Gesellschaft von dem Glauben an ihre Glaubensartikel abhänge, daß durch freie Entfaltung der menschlichen Geisteskräfte die nationale Sittlichkeit gefährdet werde. Sie fordert deshalb die Schule, die Familie, den Staat unter ihre Herrschaft zurück.

Und für diese plumpe Unwahrheit finden sich nur zu viele offene Ohren. Vergebens hat vor fünfzig Jahren Schleiermacher vor den düsteren Larven gewarnt, die auskriechen würden um jede Forschung außerhalb der engen Umschanzung des Buchstabens für satanisch zu erklären. Vergebens haben Männer wie Friedrich von Sallet, Georg Herwegh und alle die andern Ritter vom Geist der traditionellen Verlogenheit und der clericalen Gewissenstyrannei so muthig den Fehdehandschuh hingeworfen. Dem Volke selbst bleibt der Kampf gegen die Macht der Reaction nicht erspart. Ob es denselben würdig und siegreich zu Ende führen wird, das wird wesentlich davon abhängen, ob es die Bedeutung des Kampfes richtig erfaßt.




Das Kleinod des deutschen Ostens.

Ein Ruf zur Wiederherstellung der Marienburg.

Die Marienburg, der ehemalige Sitz des einst im Weichsellande so mächtigen deutschen Ordens, über den die „Gartenlaube“ bereits früher (Jahrgang 1859, Nr. 6) ihren Lesern einen illustrirten Artikel geboten hat, ist nach dem Urtheile aller Sachverständigen ein geradezu einzig in seiner Art dastehender Profanbau der gothischen Baukunst, die Perle des deutschen Nordens und Ostens, wie die Alhambra der Edelstein Spaniens ist. Die Marienburg hat seit ihrer Begründung an der Nogat (1274 bis 1276) so mannigfache wechselvolle Epochen durchlebt, wie sie wohl kein anderer deutscher Kunstbau, mit Ausnahme vielleicht vom Kaiserpalatium in Goslar, zu überstehen gehabt hat. Einst eine uneinnehmbare Feste, der glanzreiche Sitz des von Kaiser und Reich gefürsteten Hochmeisters des deutschen Ordens und zugleich der Ziel- und Sammelpunkt aller deutschen Kreuzfahrer und Colonisten, fiel sie nach dem selbstverschuldeten Sturze des Ordens dem polnischen Aar anheim; sie blieb zwar noch Mittelpunkt des dem deutschen Orden entrissenen Weichsellandes und Sitz der antinationalen Regierung, aber sie war doch nur ein Schatten ihres früheren Glanzes – eine gesunkene Größe. Schwer hatte sie zu leiden unter den militärischen Bewegungen, die im sechszehnten, siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert von Seiten der Polen, Schweden, Sachsen, Russen, Oesterreicher das arme Land durchtobten, und als die Burg endlich wieder in deutsche Hände übergegangen war (1772), fiel sie, damit das Maß ihres Elends voll würde, einem schmählichen Vandalismus zum Raube. Der dort stationirte leitende „Sachverständige“ sah in Unkenntniß der charakteristischen Baukunst des deutschen Ordens in dem kunst- und stilvollen Baue der Marienburg nichts Anderes als eine kostbare Fundgrube von – Baumaterial!

Arme Marienburg! Unbarmherzig wurden deine mit kunstvoller Mosaikarbeit, feingegliedertem Fries und kleinen gotischen Fenstern gezierten Mauern durchlöchert und dir dafür ein widerwärtiges, kattunartig angepinseltes Kleid angezogen. Im Innern wurden die herrlichen gotischen Gewölbe ausgeschlachtet, die geschliffenen Granitsäulen entfernt, die einst den Ordenszwecken dienenden Malereien und Sinnsprüche der Wände aber in roher Weise übertüncht, bis die fünfhundertjährigen Räume für Speicher- und Magazinzwecke genügend hergerichtet worden waren. Nur die Marienkirche mit dem großen Mosaikbilde und der circa sechszig Meter hohe, schlank und zierlich das ganze Zerstörungswerk überragende Thurm der Burg entzogen sich dem niederen Geschmacks-, aber hohen Zerstörungssinn des „Sachverständigen“; beide blieben unversehrt und unzerstört, der Nachwelt ein warnendes und wachendes Ausrufungszeichen.

Dieser abenteuerliche Vandalismus erregte denn auch in Stadt und Land eine allgemeine Entrüstung; die Bewohner der ganzen Gegend fühlten, daß durch die Zerstörung der ehrwürdigen Marienburg ein Stück aus dem Herzen des Landes gerissen wurde. Unser begeisterter Dichter, Max von Schenkendorf, war es, in dem die allgemeine Mißbilligung einen mächtigen Widerhall fand und der noch in letzter Stunde der Zerstörung einen Einhaltbefehl erwirkte, wodurch Einiges gerettet wurde (1804). Damals nahm sich der Minister und Oberpräsident Th. von Schön, ein Kind der Provinz, der Sache an, aber leider lähmten die jetzt eintretenden Kriegsverhältnisse alle Bestrebungen, der unglücklichen Marienburg zu Hülfe zu kommen; erst nach dem Friedensschlüsse konnte Schön für die Sache der Marienburg thatkräftig eintreten. Ihn unterstützten Männer, wie Professor Johannes Voigt-Königsberg, Bau-Inspector Gersdorf-, Pfarrer Haebler- Marienburg und als Mächtigster unter ihnen der Kronprinz von Preußen, der nachherige König Friedrich Wilhelm der Vierte.

Das war ein rühriger Wetteifer! Nach vollständiger Organisation der Staats- und Privatbetheiligung steuerte Hoch und Niedrig zu dem echt vaterländischen Werke bei. Erlöst von dem Banne der letzten Jahrhunderte, erstand allmählich das mittlere Haus, jener Theil der Burg, in dem einst der Hochmeister residirt hatte – darunter die herrlichen Empfangs- und Prachtsäle („Remter“ genannt) – lauter Räume, in denen die gotische Gewölbeentwickelung mit Beihülfe polirter Granitsäulen, gemalter Fenster und Wände etc. wahrhaft Schönes geleistet hat. Nun wurden auch noch andere, viel Mühe, Zeit und Geld erfordernde Arbeiten in der nächsten Umgebung dieses Theiles der mittlern Burg ausgeführt, um wenigstens äußerlich einige Uebereinstimmung zwischen den zerstörten und wiederhergestellten Theilen zu erzielen. Es war ein herrlicher Anfang der Restauration für dessen Durchführung jeder Deutsche jenen Männern, die sich diesem Werke unterzogen haben, nicht genug Achtung und Dankbarkeit zollen kann; denn nirgends, soweit die deutsche Zunge klingt, ist ein solches Bauwerk mehr zu finden.

Die Wiederherstellung der Marienburg forderte mehr als ein Menschenalter, und so starben die Männer, die sich den Neubau der Burg zur Lebensaufgabe gemacht hatten, über dem halbvollendeten Werke dahin. Nachdem die Wiederherstellungsarbeiten am mittleren Hause bereits aufgehört hatten, tauchte eine Hoffnung zu Restauration des „hohen Hauses“ auf, jenes mächtigen Vierflügelkolosses, der den mittleren Theil des Hauses an Bedeutung weit überragt. Dies geschah durch König Friedrich Wilhelm den Vierten, der sich zur Herstellung eines würdigen Aufgangs in die Marienkirche durch Herrn von Quast ein Promemoria zur Wiederaufführung des früheren zweistöckigen Kreuzganges rings um den Hof des „hohen Hauses“ aussarbeiten ließ. Zur Ausführung kam es leider nicht. Dagegen rückte die Kenntniß dieses scheinbar ungelenkigen Kolosses durch die exacten Durchforschungen des Herrn von Quast, und durch die späteren Untersuchungen des jetzigen Bauraths der Stadt Berlin, Blankenstein, ein mächtiges Stück vorwärts. Freilich wurde das äußere Aussehen des Hauses dadurch momentan nicht gehoben, da man zur genaueren Erforschung des früheren Zustandes der Wandungen unter dem jetzigen roth und weiß carrirten Kattunkleide den Wandputz an den verschiedenen Stellen abhacken mußte und nunmehr – ein widerlicher Anblick – Alles bunt durch einander zum Vorschein kam: so z. B. die kleinen wieder freigelegten gotischen Fenster neben den unheimlichen dunklen Magazinluken.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_283.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)