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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

unbequem war, voll Wohlwollen und Mitleid für Anderer Kummer, so lange man nicht von ihm verlangte, durch herzhaftes Thun diesen Kummer zu enden und im Ganzen geneigt, sich mit den Interessen und Angelegenheiten, von welchen die Leute um ihn her erregt wurden, durch eine witzige Bemerkung oder einen Einfall harmlosen Spottes abzufinden.

Im Uebrigen war er von der „besten Erziehung“, von den feinsten gesellschaftlichen Formen, und weil er unterhaltend sein konnte, beliebt und gesucht, was ihn dann wieder verführt hatte, viel in der Gesellschaft zu leben und früh alle Genüsse der Welt auszukosten. So kannte ihn Aurel, und er mußte sich auch gestehen, daß Ludwig Gollheim nicht der Mann sei, seinem Vater gegenüber und im Kampfe mit diesem eine schwere Pflicht zu erfüllen; oder die Leidenschaft für Lily, sein junges Weib, hätte ihn zu einem andern Menschen, als er bisher gewesen, machen müssen, was aus seinem bisherigen Verhalten nicht hervorging.

Also auf Aurel’s Schultern blieb Alles gebürdet. Er war es, der den Kampf ausfechten mußte – er allein, und er mußte in diesem Kampf alle seine Hoffnungen auf Lebensglück einsetzen; er mußte es seiner Pflicht, für das Recht der Schwester einzutreten, opfern, um dann – das war ja das Bitterste, das Unseligste bei diesem ganzen Schicksale – um dann mit dem Opfer am Ende nur ein elendes Leben, eine ganz traurige Zukunft für Lily zu erkaufen. War Lily geboren und aufgezogen, sich in den Lebenskreisen, in welche sie an der Seite Ludwig's gestellt sein würde, glücklich zu fühlen? Und war Ludwig der Mann, an dessen Seite ein so auf Licht, Heiterkeit und Lebenslust gestelltes Wesen dauernd das Gefühl haben konnte, vom Schicksal so viel Glück gewährt erhalten zu haben, wie ein anspruchloses Menschenkind zu verlangen sich berechtigt glaubt? Sicherlich nicht! Aurel durfte nicht davor zurückschrecken, sich zu gestehen, daß Ludwig dazu viel zu sehr ein kalter, egoistischer Mensch sei. Aber was half das Alles – jetzt, wo solche Betrachtungen so gar nichts mehr an der Thatsache änderten? Lily war nun einmal Ludwig’s Weib; ihr Recht, ihre Ehre mußten vertheidigt werden, und dann konnte Aurel aussprechen:

„Verderben, gehe deinen Gang!“

Er schritt eben, in Gedanken verloren, in seinem Arbeitszimmer in dem alten Schloßbau auf und ab. Er wollte sich jetzt zu seinem Vater und zu Lily begeben und ihnen den Erfolg seines Schrittes bei Gollheim mittheilen; dann wollte er mit dem geachtetsten Advocaten der Stadt eine Conferenz halten und diesen darauf zu seinem Vater und Lily senden, um sich von ihnen Vollmachten und von dem Vater Aufschlüsse, deren er bedürfen könnte, zu holen. Aber noch zitterten alle Erschütterungen dieser Tage, die Erregungen der furchtbaren Stunde bei Gollheim in ihm nach; er suchte in einsamem Sinnen mehr Ruhe, mehr Fassung wieder zu gewinnen. Da vernahm er von unten heraus, von der Thordurchfahrt her, aus welcher man zu seiner Wohnung hinaufstieg, Hufschläge; das Gewölbe echoete den Donner einer rasch rollenden Equipage nach – es war nichts Seltenes, daß Equipagen da unten bei ihm vorfuhren – weshalb erschreckte es ihn in diesem Augenblicke so? – sein ganzes Nervensystem, das doch das eines kräftigen Mannes war, mußte krankhaft gereizt sein.

Im nächsten Augenblick trat hastig sein Diener ein und meldete: „Comtesse Gollheim wünschen Excellenz zu sprechen.“

„Regina! O mein Gott, sie!“ rief Aurel, und ohne dem Diener zu antworten, eilte er ihr entgegen. Ehe er noch die Schwelle seines Zimmers erreicht hatte, stand sie bereits unter der Portiere. Sie stand da, groß, bleich, mit flammenden Augen ihn ansehend, und dabei heftig Athem schöpfend, nach Luft ringend, um dann – wie eine zürnende Göttin über ihn zu kommen? Nein, nur einen flüchtigsten Moment hindurch hatte Aurel diesen Eindruck, gleich darauf war sie nur das furchtbar erschütterte Weib, das, um sich aufrecht zu erhalten, nach der Lehne des nächsten Sessels griff.

„Regina! Sie!“ sagte, vor Bewegung seiner Worte kaum mächtig, Aurel. „Wie ein Engel des Himmels kommen Sie in dieser Stunde zu mir.“

„Und ich danke Gott, daß ich Sie finde in dieser Stunde. Meinen Vater“ – Regina ließ sich wie gebrochen in den Sessel nieder – „meinen Vater fand ich nicht; er ist beim Herzog – da trieb es mich zu Ihnen – o mein Gott, Lanken, wie war es möglich, daß Sie mir von diesem Allen schwiegen?! Daß Sie mir auch mit keiner Silbe darüber ein Vertrauen zeigten, auf das ich ein Recht zu haben glaubte?! Das ist entsetzlich – für mich das Entsetzlichste bei der ganzen Sache.“

„Daß ich schwieg – daß ich Ihnen davon schwieg? Noch eben kämpfte ich mit der bittersten Verzweiflung, daß ich mich mit all meinem Leid und Schmerz nicht zu Ihnen flüchten könne, und jetzt juble ich, wo ich Sie sehe, wo ich zu Ihnen sprechen kann.“

„Aber Sie schwiegen mir doch alle diese Zeit her …“

„Von dem, was ich ja nicht wußte, gar nicht ahnte.“

„Wie, auch Sie wußten nicht …“

„Ich erfuhr erst am gestrigen Morgen von meinem Vater, daß ich eine Schwester habe.“

„Unbegreiflich!“

„Und doch ist es so.“

„Sie wußten nicht …?“

„Erst gestern, nachdem Sie längst abgereist waren, wie ich nach Ihrem Briefe voraussetzen mußte, hörte ich von meiner Schwester, hörte ich, daß diese Ihres Bruders Weib sei, sah ich und sprach ich Lily.“

„Aber welche Menschen sind dies! Welche Menschen! Ihnen das zu verschweigen! Die Existenz einer Schwester!“

„Sie fürchteten mich sogar – aber jetzt sagen Sie mir, Regina: Sie sind also nicht abgereist, haben von Ihrem Vater vernommen –“

„Freilich bin ich abgereist – ich sagte es Ihnen ja schon – ich komme eben von dieser Reise zurück, fand meinen Vater nicht daheim, und eilte zu Ihnen …“

„So hat Ludwig Ihnen gesagt …“

„Er! Ludwig! Auf unserer Fahrt, im Eisenbahncoupé, wo wir uns stundenlang allein gegenübersaßen, da öffnete er endlich den Mund; er gestand mir, daß er von der Tante Hedwig, zu der er mich geleiten sollte, gar nicht hierher zurückkehren, daß er zu einem Bekannten in Steiermark gehen werde, um dort Gemsen zu schießen, der Bekannte habe ihn zur Jagd eingeladen. Ueberhaupt werde er sich hüten, dem ‚Alten‘ für die nächste Zeit wieder unter die Augen zu kommen. Er gebe keinen Schuß Pulver für das Grafenthum, das der ‚Alte‘ hinter seinem Rücken und ohne ihn um seine Ansicht über die Sache zu befragen, erwirkt – er wolle in einfachen Verhältnissen, fern von dem albernen kleinlichen Gesellschaftstreiben in unserer Residenz, ein ruhiges Leben führen. Wenn der ‚Alte‘ nicht gewollt, daß er mit größeren Ideen und erweiterten Anschauungen heimkehre, hätte er in nicht um die Welt segeln lassen sollen. Mit einem ganz einfachen bürgerlichen Weibe, das er liebe und das ihn liebe, nicht aber einem, das sich von dem ‚Alten‘ für ihn auf den Leim seines dummen Grafenthums locken lasse, wolle er leben, in den Bergen irgendwo, hinten in Tirol oder Steiermark, fern und hoch genug, daß ihn die stierköpfigen alten Leute nicht einholen, weder die Grafen noch die Thierärzte ihm nachklettern könnten. Ich hatte dem Allen staunend zugehört, bis das Wort ‚die Thierärzte‘ mich ausrufen ließ, was er nur damit sagen wolle – und nun kam das ganze Geständniß, das er halb zornig und halb doch ängstlich hervorbrachte, sorgenvoll die Wirkung desselben auf mich beobachtend.“

(Fortsetzung folgt.)




Bilder heimischer Meisen.
Von Gebrüder Adolf und Karl Müller.
1. Nestbaukünstler.

Wenn der Winter allzu streng und lang ist, hören wir oft ein auffälliges, munteres Gezwitscher in unseren Hausgärten. Die Schwanzmeisen sind es, welche sich also verkünden, und ungeachtet ihrer zarten Gestalt unserem Winter trotzen. Sie sind sogenannte Standvögel, das heißt, sie verlassen ihre Heimath nicht, sondern streifen höchstens kurze Strecken familienweise umher.

Ihr emsiges Durchflattern der Bäume und des Gesträuchs, an deren Gezweig sie, nach Insecten und deren Larven suchend,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_292.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2022)