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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Der Culturkampf in der protestantischen Kirche.

2. Die Bedeutung des Kampfes für das Volksleben.
Vorm Prediger Dr. Kalthoff.

Ein Blick in die Geschichte des deutschen Protestantismus (vergl. Nr. 17) hat gezeigt, wie sich die Bewegung, welche gegenwärtig die protestantische Kirche erschüttert, historisch entwickelt hat. Die Geschichte der orthodoxen Kirche ist zugleich auch das Gericht über dieselbe, und diesem Gericht fällt gleichzeitig die ganze Reaction anheim, insofern sie das Geistesleben des protestantischen Volkes in Formen hineinzuzwingen sucht, welche sich schon in der Vergangenheit als für den Geist des Protestantismus unangemessen erwiesen haben. Wollen wir aber die ganze Tragweite der gegenwärtigen kirchlichen Bewegung richtig würdigen, so muß zu dem Urtheil, das die Geschichte gesprochen, noch die Einsicht in die Gefahren kommen, die aus der kirchlichen Reaction für unser Volksleben entstehen.

Was die kirchliche Reaction im letzten Grunde so gefährlich macht, ist die Geschicklichkeit, mit der sie die edelsten und reinsten Kräfte des menschlichen Gemüths zu den niedrigsten und verwerflichsten Zwecken zu mißbrauchen versteht. Wir rechnen mit Recht das religiöse Vermögen zu den höchsten Kräften des Menschen. Es ist ja die Kraft, mit welcher der Mensch sich seiner eigenen Unendlichkeit bewußt wird, die Kraft, mit der er die ewigen Ideale erfaßt und sich an ein unbedingtes geistiges Princip hingiebt.

Gewiß hat manchen „Gartenlauben“-Leser schon einmal der Weg am schönen Sonntagsmorgen in ein friedliches, von der großen Heerstraße der Civilisation abseits gelegenes Dorf geführt. Sobald vom Thurme herab die Glocken erklingen, fängt die stille Dorfstraße an, sich zu beleben. Ehrbar und gemessen zieht Alt und Jung, festlich geschmückt, zur Kirche, und auf manchem harten, gramgefurchten Antlitz sieht man einen hellen Sonnenblick der Freude aufleuchten. Sie alle wollen sich in der sonntäglichen Feststunde, wenn auch nur für kurze Augenblicke, über den Staub der Alltäglichkeit erheben, wollen ihre Sorgen vergessen und sich ihrer höheren geistigen Würde einmal wieder bewußt werden. Für wen hätte ein solcher Anblick nicht etwas unbeschreiblich Rührendes, möchte er auch sonst zu den kirchlichen Fragen stehen, wie er wolle!

Für einen großen Theil unseres Volkes ist die Religion nichts Geringeres als die ganze Summe seines geistigen Lebens. Das moralische Gefühl, der Sinn für das Schöne und das Streben nach Erkenntniß, alles ist dem Volke, so lange es sich im Zustande ursprünglicher Naivetät befindet, zusammengefaßt in seiner Religion. Es kniet vor seinen Heiligenbildern, weil ihm dieselben in der ihm allein verständlichen Sprache des Bildes von der Hoheit des sittlichen Ideals erzählen. Es schaut in der gütigen Mutter Gottes den Begriff des ewig Weiblichen, der ewigen Ideen verkörpert. Seine Capellen, seine Heiligthümer und Altäre vergegenwärtigen ihm die Ideen einer ewigen Gerechtigkeit und Heiligkeit.

Wer will das Kind schelten, wenn seine Phantasie der Puppe, die es im Arme hält, Leben verleiht, oder wenn es in seiner Märchenwelt wie in einer realen Welt zu Hause ist? So vermag auch das Volk im Kindesalter der Menschheit im kleinen Zeichen und Bilde Unendliches zu empfinden. Wenn es in überströmendem Gefühle seine Processionen feiert oder voll brünstiger Andacht auf den Knieen liegt vor den schlichten Kreuzen, die am Wege stehen, so drückt es in allen diesen Geberden und Gebräuchen ursprünglich nichts aus, als seine Sehnsucht und seine Schmerzen, sein Jubeln und seine Freude. Es lebt in der Welt der Wunder, wie das Kind in seiner Märchenwelt, und der schöpferische Volksgenius verbindet in glücklicher Einfalt Sinnliches und Uebersinnliches, unbekümmert darum, ob eine solche Verbindung vor dem Forum des exacten Denkens bestehen könne oder nicht.

Nun tritt aber im Leben des Volkes früher oder später ein Augenblick ein, wo es diesen Standpunkt der ursprünglichen Naivetät verläßt, wo es zum Bewußtsein des Gegensatzes zwischen dem Sinnlichen und dem Uebersinnlichen erwacht und demgemäß das Unzureichende jener früheren Vermischung beider empfindet.

Im Protestantismus ist dieser Augenblick thatsächlich eingetreten. Das protestantische Volk hat im Großen und Ganzen von diesem Baume der Erkenntniß gekostet und damit die Grenze, welche den Zustand der kindlichen Naivetät von dem selbstbewußten Leben trennt, überschritten. Nach einem unabänderlichen Gesetze des geistigen Lebens ist es schlechterdings unmöglich, jenen früheren Zustand wirklich wieder herzustellen. Jeder derartige Versuch führt vielmehr mit innerer Nothwendigkeit zur Heuchelei oder zum Aberglauben, den widerwärtigsten Carricaturen der Frömmigkeit.

Aberglaube und Heuchelei, diese unvermeidlichen Erscheinungen kirchlicher Reaction, sind deshalb keine natürlichen Gewächse des menschlichen Herzens. Sie sind künstliche Producte, die da entstehen, wo die Priester dazu kommen und den Menschen einreden, die ewige Idee sei nothwendig an eine bestimmte sinnliche Darstellung gebunden, wo somit die geistige Entwickelung gewaltsam gehemmt und die durch fortschreitende Bildung immer schärfer getrennte Verbindung des Sinnlichen und des Geistigen künstlich wieder hergestellt wird. Ob dann die Idee des Unendlichen an ein heiliges Gebäude, ein heiliges Thier und einen heiligen Hain, oder an ein heiliges Buch, das sogenannte „Wort Gottes“, eine heilige Lehre, die kirchliche Dogmatik, oder an eine geweihte Hostie und andere Sacramente unzertrennlich und wunderartig gebunden erscheint, das macht für die Sache selbst keinen Unterschied.

Zuerst hatte der überwallende Impuls des Herzens die Menschen vor der Ahnung des Unendlichen auf die Kniee geworfen. Dann kam die Hierarchie und erklärte solch Knierutschen für nothwendig zur Seligkeit. Zuerst hatte das liebende Herz mit den Geistern seiner Todten liebende Gemeinschaft gepflogen; es hatte auf Schritt und Tritt den trauten Ton der Verstorbenen zu hören, das geliebte Antlitz zu sehen geglaubt. Dann kam die Orthodoxie und versteinerte diese Empfindungen des Gemüths zu einem Dogma von der Auferstehung des Fleisches. Die leeren Schalen der Frömmigkeit, die früher einmal einen natürlichen, lebensvollen Kern gehabt haben, werden mit einem künstlichen, übernatürlichen Nimbus ausgestattet; die orthodoxen Formeln und Gebräuche erhalten den Stempel des göttlichen Mysteriums; der Vernunft wird Schweigen geboten: das ist der einfache, aber mit entsetzlicher Sicherheit wirkende Apparat, mit dem die kirchliche Orthodoxie arbeitet.

Und ist es einmal gelungen, bei dem Volke einen solchen Talisman, der es von der ewigen Verdammniß erretten und gegen die Folgen der menschlichen Fehler sicher stellen soll, einzuführen, dann ist das Volk zum willenlosen Werkzeug der Hierarchie geworden, der es abergläubische Verehrung zollt. Dann wird die Menschheit zum geistigen Krüppel, der nicht auf eigenen Füßen, sondern nur auf untergestellten Krücken gehen zu können glaubt.

Wo aber bleiben alsdann die ewigen Ideen, die das Volk, so lange es seinem freien schöpferischen Genius folgte, unter der Hülle sinnlicher Bilder und Vorstellungen anschaute und die seinen religiösen Gebräuchen Weihe und Gehalt gaben? Sie sind der Orthodoxie schließlich vollständig abhanden gekommen, seitdem man sie in kirchlichen Lehrformeln und Ceremonien zu besitzen behauptete. Die Wahrheit hat für den Orthodoxen ihre Unendlichkeit verloren; denn man kann sie in Taschenbuchformat als Katechismus oder Testament mit sich umhertragen. Die Liebe ist nicht mehr unendlich; denn sie hat ihre Grenze an den Kirchenmauern; sie wird engherzig und intolerant gegen die Menschheit, die außerhalb dieser Kirchenmauern steht. Selbst die Tugend ist nicht mehr unendlich; denn sie findet sich ab mit Dingen, die vom sittlichen Standpunkt aus völlig gleichgültig sind, die der schlechte Mensch ebenso gut vollbringen kann wie der kirchliche Heilige. Der Werth des Menschen wird nach seinen theologischen Meinungen geschätzt. Und wo einmal in der Religion das Mysterium für obligatorisch erklärt ist, fehlt nur noch ein Schritt, um auch die Lüge für officiell zu erklären.

Wer sieht nicht, wie viele Tausende und Abertausende unserer Volksgenossen um uns her in dieser Weise an ihrem Geiste verkrüppelt und verstümmelt einhergehen? Es wirkt ja so Vieles zusammen, was der Hierarchie ihr trauriges Handwerk, den menschlichen Geist auf die Folter zu spannen, so erschreckend leicht macht. Edlere Regungen, wie die Pietät gegen die Traditionen und Gebräuche der Väter, wie die freundliche Erinnerung an vergangene schöne Tage der Kindheit, in denen man „halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen, Gebete lallte“ und in solchem Lallen Seligkeit

und Genuß fand, werden systematisch ausgebeutet, um nachgeborene

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 329. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_329.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)