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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 21.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Bruderpflicht.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Der alte Herr stockte einen Augenblick. Es war, als ob er der Grasmücke, die solche Ausdrücke von Ludwig nicht hingehen ließ, Zeit lassen wolle, wider den „Windhund“ zu protestiren. Aber die Grasmücke protestirte heute nicht dawider; nicht mit dem gerigsten Zucken ihrer Wimper protestirte sie, und Lanken fuhr deshalb heftiger fort:

„Und dann, Du bist Ludwig’s Weib; er ist Dein Mann und wird genug vom Gentleman in sich haben, um sein Weib gegen Beleidigungen zu schützen; Du lebst an der Seite Deines Mannes, den Du nun einmal liebst; vornehm oder nicht vornehm geboren – Du bist nun einmal Gräfin Gollheim – Gräfin, Lily, und wenn der alte Gollheim todt ist …“

Lily machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

„Vater,“ sagte sie dann, ihn mit dem Ausdruck rühriger Neugier anblickend, „ist Dir daran viel gelegen, daß ich eine Gräfin bin?“

„Mir?“ fragte Lanken überrascht.

Lily lachte plötzlich höchst unmotivirt laut auf. Vielleicht nur über das verwunderte Gesicht, das der alte Thierarzt bei dieser Frage machte. Gleich darauf jedoch nahmen ihre Züge wieder einen sehr trübsinnigen Ernst an. Sie blickte eine Weile zum Fenster hinaus; dann brach sie, wie zerstreut, einen kleinen Geraniumzweig ab und zerriß, wie aus Gedanken erwachend, Stengel und Blätter heftig in kleine Stücke.

„Und ich mache mir gar nichts daraus,“ sagte sie zornig, „gar nichts, gar nichts! Ich mache mir aus Allem nichts, aus den Documenten, die fort sind, nichts, aus Aurel’s Ministerschaft nichts, aus Ludwig, der mich verlassen hat, nichts. Ich wollte, ich hätte ihn nie gesehen und wüßte gar nicht, daß er auf der Welt sei, und ich wäre nie hierher gekommen, und ich wäre lieber in dem Meere ertrunken, das mich hierher gebracht hat, und am liebsten möchte ich gar nicht mehr leben, und ich möchte todt sein.“

Bei diesen Worten beugte Lily sich nieder, legte ihre Stirn auf die Fensterbank vor ihr und begann bitterlich zu weinen.

Der alte Thierarzt stand da und starrte höchst betroffen auf das wunderliche Gebahren seiner Grasmücke. So war ihm sein sonst immer heiteres, leichtherziges, übermüthiges Töchterchen noch niemals vorgekommen. Er sprach einige tröstende Worte zu ihr – vergebens! Er begann auf Ludwig, der sie allein gelassen, bis ihr in der Einsamkeit so quälende Gedanken gekommen, zu schelten. Er sprach davon, daß Aurel gerade jetzt, wo er gar keine Rücksichten mehr zu nehmen brauche, desto energischer für die Anerkennung ihrer Rechte „in’s Zeug gehen“ würde – aber das Alles hatte keine Wirkung; die Grasmücke weinte und weinte, und Lanken blieb nichts übrig, als dröhnenden Schrittes und zornkochenden Herzens im Zimmer auf und ab zu schreiten. Es hatte ja auch das nur noch gefehlt, um ihn rabiat zu machen – nur noch das, daß der schurkische Diebstahl der Documente seinem Sohne die Stellung gekostet hatte, und daß die Grasmücke in Folge von dem Allen da nun vor ihm saß und so herzbrechend weinte, als ob sie nie in ihrem ganzen Leben wieder ihre Flügel ausbreiten und sich aufschwingen werde in die sonnigen Lufthöhen ihres fröhlichen Uebermuths. Es war zum Rasendwerden; es war um sich ein Leids anzuthun, oder besser irgend einem Anderen, z. B. diesem feigen Schwiegersohn, dessen Durchgehen ja doch die Hauptschuld trug. Hätte Ludwig treu zu seinem jungen Weibe gestanden, so wäre Lily ruhig und voll glücklicher Zuversicht, das arme Kind, das nun einmal sein Herz an den Unglücksmenschen verloren hatte und mit ihrer ganzen Seeleninnigkeit an ihm hing und jetzt so unglücklich war, daß sie leben mußte, ohne von ihm zu hören, ohne ihn zu sehen. Es war ja auch natürlich, daß ihr Herz darüber zu brechen drohte. War es denn nicht schändlich, sie so zu verlassen? Und in demselben Maße, wie sie die Einsicht über sich kommen fühlte, wie schändlich es war, daß der Mann, den sie liebte, sich so pflichtvergessen gegen sie benehme – in demselben Maße mußte sie sich unglücklich und immer unglücklicher fühlen.

Einstweilen aber war nun nichts zu machen. Wenn die Grasmücke eine Erleichterung darin fand, sich einmal auszuweinen, so war es am besten, man ließ sie sich ein Genüge darin thun – gegen Frauenzimmerthränen hatte der alte Thierarzt keine irgend einen Erfolg verheißende Mittel kennen gelernt, und bei Aurel Hülfe suchen, ihn herbeiholen, daß er Lily durch seinen Zuspruch und durch Mittheilung dessen, was er jetzt thun werde, tröste – das war ihm ja für heute auch verwehrt. Darum ging er davon, suchte in seinem Zimmer nach Rohrstock und breirändigem Hut, welch letzteren er trotzig auf die wettergebräunte Stirn drückte, und eilte in’s Freie hinaus, um frische Luft zu schöpfen.

Er ging zur Stadt hinaus in die grünen Gartenanlagen, welche dieselbe, vom Residenzparke auslaufend, wie mit freundlichen Armen umfaßten, als ob der Herrschersitz sein Völklein mit blumigen Banden an sich schließen wolle – ein Vergleich, der dem alten Republikaner nun freilich nicht kam; er hatte, während er mit seinen schweren Nagelschuhen über die Kieswege dahin stapfte, anderen Gedanken nachzuhängen. Nach einer Weile wurde er in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 337. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_337.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2021)