Seite:Die Gartenlaube (1881) 437.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 27.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.


1.

Zur Linken von einem massigen Bergkegel beschirmt, der seine dunklen Schatten weit in das Thal wirft, breiten sich auf der langhingedehnten Oberfläche einer felsigen Anhöhe die großartigen Ruinen einer jener Burgen aus, an denen Tirol so reich ist. Lange Jahrzehnte hindurch stand die Moosburg in märchenstiller Verlassenheit, aber in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts hatte ein romantisch gesinnter Ausländer das interessante Felsennest käuflich erworben, und nun „sproßte neues neues Leben aus den Ruinen“, allerdings in modern romantischem Sinne. Noch standen die Grundmauern und Gewölbe, selbst die Eingangshalle des südlichen Flügels unversehrt. Der neue Besitzer ließ auf dieser Grundlage ein festgefügtes Wohnhaus emporwachsen, und schon schmückten Zinnen und Erker den in massigem Viereck aufstrebenden Bau, dessen zahlreiche Fenster gothische Bogen bildeten; ja, ihre in Rautenform bemalten Läden sahen, wenn man sie von fern erblickte, sogar wie alte Glasfenster aus. Das schwere, eisenbeschlagene Thor des Haupteinganges stammte wirklich noch aus vergangenen Jahrhunderten und führte in eine gewölbte Halle, durch deren schmale, schwere Thüren Generationen aus- und eingeschritten waren. Von dieser alterthümlichen Halle aus führte nun freilich eine ganz moderne Holztreppe zu den Wohnräumen des ersten und zweiten Stockwerkes hinauf.

Jener Fremde nun, welcher sich diese Heimstätte in der Bergeinsamkeit aufgebaut hatte, mochte derselben bald müde geworden sein; denn schon wenige Jahre, nachdem der Bau vollendet, bot er die Moosburg zum Kaufe aus, und rascher, als zu erwarten gewesen, fand sich ein Liebhaber dafür.

Herr von Riedegg – so nannte sich der neue Besitzer – zog spät im Herbst mit Frau und Dienerschaft in das eben erworbene Eigenthum ein. Die Wenigen, welche in der Gegend hiervon überhaupt Notiz nahmen, wunderten sich über den Einzug in so vorgerückter Jahreszeit; wer aber Gelegenheit fand, sich im Innern des Neubaues umzuschauen, der mußte zugestehen, daß die Moosburg auch im Winter als behagliches Heim gelten durfte. Den hohen Gemächern fehlten weder solide Kachelöfen, noch gute, zum Theil prächtige Polstermöbel und Teppiche. Für ein junges Paar mochte es sogar eigenthümlichen Reiz haben, die rauhe Jahreszeit in solcher gegen ihre Angriffe wohlgeschützten Abgeschiedenheit zu verleben. Jetzt lohnte jedenfalls das warme Wetter den Entschluß, sich hier häuslich niederzulassen.

Herr und Frau von Riedegg saßen an einem sonnigen Morgen auf der vorspringenden Terrasse, welche vom ersten Stockwerk aus weite Umschau bot. Das Geräth des zierlich servirten Frühstückstisches war bereits zurückgeschoben; der Hausherr hatte seinen Sessel dicht neben den seiner Gefährtin gerückt, und sein Arm umfing ihre Schultern. Die beiden einander so nahen Köpfe waren gleich interessant, wenn auch von ganz verschiedenem Gepräge. Das Gesicht des nicht jungen, aber noch jugendlichen Mannes fesselte, aber jenes der etwa in der Mitte der Zwanzig stehenden Frau überraschte, und zwar nicht allein durch seine große Schönheit, sondern mehr noch durch einen schwer zu bezeichnenden Ausdruck der classisch geschnittenen Züge. Es gab etwas in diesem Gesicht, das der Ruhe bedingenden Harmonie seiner reinen Bildung widersprach und doch dessen Reiz erhöhte, und dieses Etwas schlummerte in den dunkelgrauen Augen. Selbst im gegenwärtigen Moment, wo diese Augen sanft, ja beinahe schelmisch blickten, verrieth ihr Schnitt, die breite Wölbung der Lider unter hochgeschwungenen Brauen, daß ein ganz anderer Ausdruck in ihrem Grunde lag – ein Ausdruck von Gluth und Zauber. Es waren die Augen von Leonardo da Vinci’s „Monalisa“.

Des Mannes blaue Augen hingen mit leidenschaftlicher Bewunderung an ihren Zügen; leise wie ein Kind, das den günstigen Augenblick erhascht, etwas Erwünschtes, halb Verbotenes zu thun, hob er unerwartet die Hand und zog den goldenen Pfeil aus ihrem lose aufgesteckten Haar. Als die blauschwarzen schweren Flechten auf die in ein weißes Negligé gehüllte vollendet schöne Gestalt der Frau von Riedegg niederrollten, faßte er eine derselben und drückte seine Lippen darauf.

„Nicht doch, Meinhard," sagte sie; „heute ist kein Tag für Kindereien."

„Gerade heute!" scherzte er. „Giebt es wohl etwas im Himmel und auf Erden, das Du heute nicht mit Kind und Kinderei im Zusammenhang erblicktest? So laß mir auch die meine, Genoveva!"

Sie lächelte, entzog ihm aber mit leiser Bewegung das Haar und erhob sich, nachdem sie es achtlos wieder aufgenestelt.

Während sie an die Brüstung vortrat, zeigte sich die volle Höhe und königliche Haltung ihrer geschmeidigen Gestalt. Ihr Auge flammte auf, und sie breitete einen Moment die Arme aus, als wollte sie den weiten Himmel fassen. Eben stieg die Sonne glorreich über den Kegel des „Heiteren Lahn“ empor, und mitten im Inn, der sich durch die beiden Thalbuchten schlängelte, floß plötzlich ein zweiter Strom von blendendem Lichte. Glänzende Morgenpracht ergoß sich ringsum.

Genoveva ließ die Arme sinken und wandte lebhaft den Kopf:

„Sieh, welche Glorie den Tauftag unseres Sohnes vergoldet! Ein Omen, ein glückliches Omen!"

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 437. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_437.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2021)