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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

zu sagen hätte und an dem man doch vorübergeht – man besinnt sich, wendet sich und versucht den Andern einzuholen. Da sieht man betroffen, daß sich dieser inzwischen schon so weit entfernt hat, daß er nicht mehr einzuholen ist.

Ein Augenpaar drang über Berg und Thal und fragte vorwurfsvoll: Worauf wartest du? – Und sein Gedanke antwortete: Wüßtest du nur! Ich kam gerüstet zum Kampfe mit einem Riesen, statt seiner fand ich ein Kind; ich kann es, darf es nicht zu Boden werfen; ich muß es auf meine Arme, an mein Herz heben – nur so wird unser Weg frei!

Des Menschen Seele ist ein wundersames Instrument. Derselbe Ton, der gestern noch als reine Lösung der Dissonanz klang, die unseres Lebens Harmonie untergräbt, läßt morgen vielleicht die straff gespannte Saite springen. Was Meinhard bisher beschwichtigt, was er sich noch eben wiederholt, traf sein eigenes Ohr plötzlich wie leerer Schall. Stärker, gewaltiger klang das Echo der berechtigten Frage: Worauf wartest du? Jähe Gluth stieg ihm bis in die Stirn. Ihm war, als müßte er die Augen niederschlagen vor Allem, was ihm lieb und theuer zugleich, und er schlug sie lebhaft auf, mit dem Blitze des Entschlusses darin.

Als er im Begriffe war, dem Schlosse zuzuschreiten, kam ihm ein Diener mit der Meldung entgegen, die Comtesse sei bereit. Wirklich saß Ottilie schon in Hut und Schleier auf dem ihr zugehörenden Maulthier, während der Reitknecht daneben Meinhard’s Fuchs am Zügel und in der Linken Reitpeitsche und Mütze hielt. Mit jener angeborenen Eleganz, die jede seiner noch durchaus jugendlichen Bewegungen kennzeichnete, schwang sich der Graf in den Sattel. Die Augen der Bediensteten folgten dem Paare mit jener gemütlichen Eigenthumsfreude, die Herrn und Hof als „unsere“ umfaßt.

Schweigend ritten Vater und Kind durch den lichten, zu Anfang des Weges von mancherlei Anlagen unterbrochenen Forst. Der schöne Morgen lachte über ihren Häuptern und strömte sein volles Glänzen über das Thal, welches sich zur Linken des Fahrweges bald dem Blicke öffnete. Der stete Wechsel südlicher und nördlicher Vegetation, wie er der deutsch-italienischen Grenzscheide eigen, verlieh den terrassenartig über einander steigenden Geländen charakteristischen Reiz. Weinbelaubte Hügel, schattige Kastanienhaine strebten zu dunklen Föhrenwäldern aufwärts; fern, als Grenze des Thales, stand der imposante Gebirgszug im Morgendufte.

„Woran denkst Du, Papa?“ fragte Ottilie plötzlich.

Schon wußte sie, daß ihr Auge vom Vater empfunden werde, wenn er auch abgewendet schien, nun aber hatte es seit Minuten an ihm gehangen, ohne ihn der Versunkenheit zu entreißen, welche ihn gefesselt hielt.

Er wandte den Kopf und sah sie mit verlorenem Blick an.

„Woran ich denke? An Dich, Tila. Ich möchte Dir etwas vertrauen, was uns Beide angeht, nahe, sehr nahe angeht.“

Ihr Auge glühte auf.

„Du willst mir vertrauen?“ fragte sie lebhaft. „Ich danke Dir. Was Dich angeht, muß ja auch mich angehen o, mir ahnt, um was es sich handelt. Du denkst künftig nicht auf Riedegg zu bleiben; Du willst in die lebendige Welt hinaus, wirken, schaffen, und nimmst mich mit Dir?“

Meinhard schüttelte leise den Kopf.

„Nicht so, Tila! Von Jüngstvergangenem will ich Dir erzählen, und was sich uns daraus an Zukunft aufbaut. Wir sind hier nahe bei Lichtenwerde. Dort wollen wir absteigen und rasten, dann hörst Du mir zu.“

Ottilie warf einen fragenden Blick aus den Vater und verstummte. Im Tone seiner Stimme, so weich er geklungen, lag etwas, das sie befremdete und mit unbestimmtem Bangen erfüllte. Nachdenklich ritten Beide vorwärts, ohne ein Wort zu tauschen, bis sich aus der weit vorgeschobenen Berglehne eine Lichtung öffnete, auf deren Plan die Trümmer einer längst zerfallenen Burg ausgestreut waren, von Moos und Buschwerk wie in einen Mantel gehüllt. Es war eine Heimstätte tiefster Einsamkeit; selbst in dieser Stunde, wo das goldene Tageslicht sich in jeden Winkel ergoß, breitete sich eine bezaubernde Melancholie über den weltabgeschiedenen Ort. Welche Ruhe hier, welches Schweigen! Dicht am Abhang stand ein verlassenes Kirchlein, über dessen altersgraues, verwittertes Gemäuer wildes Geranke niederhing. Wind und Wetter hatten die Kuppel des Thürmchens halb abgedeckt; die stumme Glocke, welche längst keine Stunde mehr bezeichnete, hing frei zwischen den Sparren. Zur Linken der Pforte breitete eine Kastanie ihren Schatten über Rasen und Moos. Nur mit leisen Athemzügen regte sich das Leben der Natur. Würziger Waldblüthenduft, goldene Sonnentropfen füllten die Stätte.


(Fortsetzung folgt.)



Eine Rheinfahrt.

Der Rhein, ein Bild des Menschenlebens. – Constanz. – Eine Erinnerung an den Burggrafen Friedrich von Nürnberg. – Der Bodensee. – Schloß Gottlieben. – Die „Gangfischli“ vom Untersee. – Der schweizerische Sitz der Napoleoniden. – Reichenaus Glanz und Verfall. – Stein am Rhein mit Hohenklingen. – Von Diessenhofen nach Schaffhausen.

Unter den Tausenden und aber Tausenden, welche sich alljährlich von den Wellen des deutschen Lieblingsstromes tragen lassen, entschließen sich nur Wenige, die Flußfahrt südlich von Mainz fortzusetzen, und wen es etwa zu den herrlichen Münstern von Worms, Speier und Straßburg zieht, der wählt den Schienenweg – nicht mit Unrecht; denn die Stromufer sind flach und dürftig, Nur durch die fern blauenden Bergketten des Schwarzwaldes und der Vogesen gewinnt die Landschaft einigen Reiz, der aber kann für die Monotonie des Vordergrundes entschädigt. Anders freilich wird es, wenn man den Fluß noch weiter aufwärts, bis in das Land seiner Geburt verfolgt. Aber wer kümmert sich dort um den weiter nördlich so hochgepriesenen Rhein? Gleichgültig eilt an ihm der Reisende vorüber; nur bei Dachsen etwa wird ein Zug übersprungen, um im Fluge den berühmten Schaffhausener Wasserfall zu besuchen. Denn diesen, von dem man weiß, daß er nächst dem Trollhätta und Imatra alle Stromfälle Europas an Majestät übertrifft, muß man doch füglich gesehen haben. Alsdann geht es rastlos weiter, der lockend winkenden Alpenwelt entgegen – der Rhein bleibt unbeachtet zur Seite. Hier aber verdient er solche Zurücksetzung nicht; hier prangen seine Gestade, von Geschichte und Sage verklärt, in so reicher, abwechselnder Schönheitsfülle, wie nur irgendwo auf seinem späteren Laufe.

Mutwillig kommt der junge Strom, seine künftige Größe noch nicht ahnen lassend, aus seiner kühlen Gletscherwiege hoch von den nebeligen Höhen des Gotthard herabgebraust; mit jugendlichem Ungestüm bricht er sich seinen Pfad durch die wildromantischen Schluchten Graubündens, bevor er in den Canton St. Gallen tritt. Auch hier noch ist die Landschaft herrlich. In kühnen Zacken, scheinbar nur dem Fluge des Adlers zugänglich, starren überall grandiose Massen kahlen zerrissenen Gesteins empor, und an ihren Klippen und Vorsprüngen kleben graue, zerfallene Felsennester, die Stammburgen uralter, noch heute hochangesehener Geschlechter. Die breite Thalsohle schmückt eine üppige, fast südliche Vegetation; frischgrüne Triften begleiten den rasch und ungestüm bergab eilenden Fluß. Noch trägt dieser keine Lasten – kaum wagt sich ein leichtgebauter Fischernachen ungestraft in den tosenden Strudel – noch weilt er im sonnigen Zauberlande der Kindheit, wo es nur heitere Spiele, keine ernsten Pflichten giebt. Aber der Bodensee ist ihm eine strenge Schule, aus der das undurchsichtige, weißlichgraue Gletscherwasser geläutert und smaragdklar hervorgeht. Nun tritt der Ernst des Lebens an den stattlich Emporgewachsenen heran; dem Verkehr und der Gewerbthätigkeit muß er fortan dienstbar sein. Aber noch immer eilt er raschen, übermütigen Laufes zwischen seinen grünen Waldbergen vorwärts, ein leichtlebiger Jüngling, dem die lustigen Knabenspiele noch nicht allzufern liegen. Noch einmal scheint die Erinnerung an dieselben mit überwältigender Macht in ihm zu erwachen – da macht er seinen letzten tollen Jugendstreich. Von hoher Felswand herab stürzt er sich lautaufjauchzend in’s Thal; alle ihm aufgedrungenen Lasten abschüttelnd, braust er mit ausgelassenem Jubel dahin, bis sich allmählich sein stürmischer Uebermuth legt und er gesetzteren Schrittes weiterwallt. Und nun lenkt er als wolle er gänzlich mit der stürmischen Vergangenheit brechen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 460. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_460.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)