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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

„Deshalb also!“ murmelte er und preßte die schmalen Lippen fester auf einander.

Im Begriff, das Blatt niederzulegen sah er dessen letzte Seite mit einigen Strophen von Meinhard’s Hand beschrieben. Er zuckte die Achseln, doch las er auch diese:

„Wie der Sturmwind brausend die Wolken trägt,
Nimmt der Donner auf Schwingen mein Herz
Und wühlt es mir auf und hat’s mir erregt,
Daß es dunkelt und grollt und Blitze schlägt –
Weiß nicht, ob in Glück oder Schmerz.

Da träum’ ich mir einen feurigen Traum
Wie ich, ein zuckendes Wolkenkind,
Mich stürzen will durch den sausenden Raum,
So schnell, daß den Himmel ich streifte kaum,
So schnell, wie kein Blitz sich’s ersinnt.

Wo die Ferne aufhört, da hielt’ ich ein –
Ich weiß, wo die Ferne hört auf!
Und glühend strömt’ ich den Flammenschein
In Dein Herz mit zündender Kraft hinein,
Bis es feurig loderte auf.“

Des Greises Lippe lächelte ironisch. Selbst in diesem Augenblick, wo Grabesodem ihn umgab, regte sich sein Skeptizismus. Er faltete den Brief bedächtig zusammen, schob ihn zurück in das Couvert, welches ihn umschlossen hatte, und notirte dessen Absendungsort. Dann fuhr er fort, die vor ihm liegenden Papiere sorgfältig durchzusehen. Aus einem derselben fiel ihm eine lange dunkle Locke entgegen, um welche als Knoten feine lichtblonde Kinderhärchen geschlungen waren – ein Frösteln überlief den Grafen.

Schneidend empfand er die herbe Ironie des Geschickes: mit der Hälfte seiner Habe, ja mit dem Preise seines eigenen Lebens hätte er sich einen Enkelsohn erkaufen mögen – und dieser Enkel lebte und athmete nun – vielleicht ihm zum Unheil, statt zum Heile. Grollend dachte er des Weibes, des Kindes, deren Liebe sich Meinhard im Verborgenen gefreuet, und der zertrümmerte Wille knirschte gegen jene Macht, die der Greis nur als blinde Schicksalsmacht anerkannte, aber deren immer neue Schläge ihm widerwillig die Ahnung eines leitenden Verhängnisses in die Seele drängten.

Ein Pochen an der Thür scheuchte ihn aus finsterem Brüten auf. Ueberrascht sah er Ottilie eintreten, die schweigend und befangen auf der Schwelle stehen blieb und leicht zusammenschreckte, als er ihr nicht ohne Unzufriedenheit entgegenrief:

„Wie, noch nicht zur Ruhe?“

Sie näherte sich.

„Ich muß Dir etwas sagen, Großvater. Tags über konnte ich es nicht – auch wollte ich damit warten, bis – bis – ihre Stimme erstickte in Thränen.

Der Graf betrachtete sie schweigend. Sie war überaus blaß, und zum ersten Male zuckte der Gedanke, daß auch dieses Kind sterblich sei und den Andern nachsinken könnte, durch Haupt und Herz des alten Mannes, der ihr im Grunde seiner Gedanken nie verziehen hatte, daß sie ein Mädchen war. Er legte leise die Hand auf ihren Scheitel und sagte gütiger:

„Und was hättest Du mir heute noch zu sagen, Ottilie?“

Sie stand mit niedergeschlagenen Augen vor ihm – ihre Brust hob und senkte sich, und erst nach einer Pause sagte sie sehr leise:

„Etwas – etwas von meinem Vater – er sagte mir – im letzten Augenblicke seines Lebens vertraute er mir –“ Ihr Gesicht bedeckte sich mit heißer Röthe – sie neigte sich dicht zum Ohr des Greises nieder und athmete: „Ich habe einen Bruder.“

Ueberrascht sah er ihr in die Augen

„Das weißt Du?! Nun, ich weiß es auch. Hat Dir Dein Vater etwa Aufträge hinterlassen?“

Sie schüttelte den Kopf. Abermals brachen ihre Thränen unaufhaltsam hervor.

„Nichts! Nur die paar Worte – und ich komme, um Dich zu bitten – Großvater, ich bitte Dich flehentlich –“

Er unterbrach sie rasch:

„Du magst Dich beruhigen. Ich bin über die Sache bereits orientirt; es wird für alles Nöthige Sorge getragen werden.“

„Aber auch ich, Großpapa – ich möchte erfahren – möchte selbst –“

„Laß das ruhen!“ sagte er kalt. „Es ziemt Dir nicht, Deine Gedanken hiermit zu beschäftigen Du weißt, daß Dein Vater nicht vermählt war. Diese Angelegenheit zu ordnen steht nur mir zu, und daß es in allgemeiner Weise geschehen wird, darfst Du voraussetzen; damit begnüge Dich! Und nun genug davon! Nimm Platz – es ist mir angenehm, daß Du gekommen bist; auch ich habe Dir etwas zu sagen, und es könnte sich dazu keine ungestörtere Zeit finden, als die gegenwärtige.“

Das junge Mädchen setzte sich mechanisch ihm gegenüber; ihre kummervolle Seele irrte noch um den ihr eben verbotenen Gedanken. Dennoch horchte sie auf, als der Graf ruhig fortfuhr:

„Ich habe beschlossen Dich für die nächsten zwei Jahre nach Wien zu den Damen des sacre coeur zu senden. Eine zweite Ehe Deines Vaters würde mich vielleicht veranlaßt haben, diesen längst gefaßten Beschluß aufzugeben, aber jetzt muß er ausgeführt werden. Mademoiselle genügte bisher, nun wird es aber hohe Zeit, daß Du Dich in angemessener Umgebung bewegen lernst. Nach dem, was wir erleben mußten, erscheint mir räthlich, hiermit nicht zu zögern; denn eine Ortsveränderung für Dich ist nothwendig – je eher, desto besser! Die Luft eines Trauerhauses ist keine gesunde Luft, und deshalb wirst Du spätestens übermorgen unter Mademoiselles Schutz abreisen. Ich selbst folge bald und werde mich persönlich überzeugen wie Du Dich einlebst.“

Ottilie hörte den Worten welche sie so nahe angingen, ohne Bewegung zu. Ihr Gram um den erlittenen Verlust brannte so heiß, daß ihr Alles gleichgültig erschien, was nicht unmittelbar damit zusammenhing, und wurde sie sich während der Ankündigung, daß und in welcher Weise über sie verfügt worden, irgend einer schwachen Regung bewußt, so war es zu Gunsten eines Beschlusses, der sie wenigstens der grauenhaften Oede des Schlosses entführte. Dennoch sprach ein Klang des Heimathgefühls aus der Frage: „So bald schon?“

Der Graf erhob sich und trat zu ihr. Ein bei ihm so seltener Blick der Zärtlichkeit traf sie aus seinen müden Augen.

„Ja,“ sagte er, indem er sie einige Augenblicke schweigend betrachtete, „bald! Am liebsten schon morgen! Du wenigstens sollst mir bleiben, und auf Riedegg – pflegt man zu sterben“




6.

Etwa eine Woche war vergangen, seit Meinhard in die Gruft seiner Ahnen gebettet worden. Stunden und Tage hingen bleischwer über Schloß Riedegg, von welchem mancher vorüberkommende Wanderer den Eindruck einer menschenverlassenen Stätte mit hinwegnehmen mochte – so lautlos bewegte sich die Dienerschaft innerhalb der Höfe und Gänge, so selten erschien ein Menschenantlitz an den Fenstern oder unter den Pforten. Graf Raimund verließ sein Schlafgemach nur, um im Königinzimmer die Papiere des Archivs zu sichten und persönliche Schriftstücke abzuändern. Mit Ottilie war der letzte Schimmer von Jugend und Freude aus den weiten Hallen von dannen gezogen, und bereits rüstete sich der Graf, ihr nach Wien zu folgen; er wartete nur noch auf das Eintreffen seines vertrauten Kammerdieners, welchen er den Damen als Geleite mitgegeben und zugleich mit der Mission betraut hatte, auf der Rückreise in discreter Weise die Schreiberin jenes Briefes an Meinhard zu ermitteln. War auch nur ihr Vorname unterzeichnet, so gaben die Station der Absendung und die dem Datum beigefügte Bezeichnung der Moosburg hinreichende Anhaltspunkte. In welcher Weise für die von seinem Sohne Hinterlassenen zu sorgen sei, behielt sich Gras Raimund nach Maßstab der erwarteten Auskunft vor, und die Stimmung des eigenen Verlustes, das Mitwissen Ottiliens hatten ihm eine Angelegenheit, welche er unter anderen Umständen wahrscheinlich frivol behandelt haben würde, der Art vertieft, daß er sie erledigt wünschte, ehe er Tirol verließ, um ein etwa wünschenswertes persönliches Eingreifen nicht zu erschweren.

Die Nachmittagssonne brannte heiß, und ermattende Schwüle lag über Berg und Thal. Dennoch war Graf Raimund bereits seit einer Stunde im Erkerthurm des Archivzimmers ernsthaft beschäftigt. Die antike Maske, welche den Deckel eines Schreibzeuges von Bronze bildete, dessen ausgezeichnete Arbeit Cellini zugeschrieben wurde, war zurückgeschlagen, und langsam aber sicher bewegte sich die Feder des Greises. Er war im Begriff, den neuen Entwurf eines Testaments aufzusetzen, welches er bei seinem Notar in Wien vollziehen zu lassen dachte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_475.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)