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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

beobachtend, an unverfänglichen Stoffen sein Kunstgefühl und seine Schaffenskraft übend, aus der Ferne mit gesteigerter historischer Einsicht die Entwickelung des Vaterlandes verfolgend, diese Entwickelung, die keine war, bis Puschkin laut an der Oedigkeit dieses Staats- und Volkslebens verzweifelte, Nicolaus Gogol sie mit grellen Farben malte, bis es über das im Starrkrampf liegende Volk wie schauernde Ahnung besserer Schicksalsfügung kam und hier, da, dort der revolutionäre Funke aufsprang, welcher die künftige verheerende Feuersbrunst voraus verkündete.

In dieser Zwischenzeit, während welcher Herzen und Bakunin fast dämonisch an der Unterwühlung des russischen Selbstherrscherthums arbeiten, ist Iwan Turgenjew nicht mehr der Tendenzpoet; er hat, wie er selbst sagt, in Deutschland eine „zweite Heimath“ gefunden, und bei Allem, was er da drunten in dem wundersamen Oosthale schafft, hat man das Gefühl, als sei es die pure blinkende Schönheit, welche über seine Seele herrschst als kümmere er sich nicht um das, was drüben im Vaterlande vorgeht. Und doch bleibt er bis in die letzten Fasern seines Seins der Russe von ehedem, aber der Russe, dem nur wie ganz von fern, wie verhallendes Echo, die Stimmen von der mütterlichen Erde das Herz zu bewegen scheinen. Der unheimlich eindringende Blick, vor dem sich Menschengeschicke wie Visionen enthüllen, der wehmüthig in bezaubernden Naturlauten verklingende Weltschmerz, die fast barbarisch ungezügelte Sinnlichkeit sind nach wie vor in ihm vorhanden, aber es ist Alles neutralen Stoffen zugewendet, welche der Künstler meistert, ohne den tief verwundeten Patrioten zu verrathen. Seine Gestalten sind oft von großer Eigenart: Diese herbe Märtyrerin der Liebe, Helene, dieser Dämon sinnberückender Herrschsucht, Auguste Polosow, sind Weiber, die nur slavischer Boden zu erzeugen, nur eine slavische Künstlerhand zu gestalten vermag. Aber ob bewußt oder kraft der Intuition des Genies, das ist die Frage. Oder vielmehr, es ist eine recht alberne Frage, die gleichwohl aufgeworfen wurde; denn wer Iwan Turgenjew’s dichterische Größe nur nach dem Maße des beabsichtigten Könnens, der kalten Vorbedachtsamkeit beurtheilt, der hat für sein Wesen überhaupt kein Verständniß. Er ist weder Realist noch Idealist, weder „Romantiker des Realismus“, noch sonst das schattenhafte Gespenst irgend einer ästhetischen Kategorie; er ist der Sohn der Steppe, dem zu dem seltsam tiefen Natursinn der Heimath sich die Weisheit des Westens aufgethan.

Ein historischer Zug beherrscht seine schriftstellerische Physiognomie, deren Anblick daran erinnert, daß er an der Scheide zweier Welten geboren ward, der europäischen und der asiatischen, welche fremd, unvermittelt einander gegenüberstehen und doch noch in einander werden aufgehen müssen, nicht vielleicht unter den Schrecken des Krieges, wie einst die asiatische sich auf die europäische stürzte, sondern unter den Zeichen der Cultur und Civilisation, deren Mittelpunkt und Träger die europäische Welt ist. Der Mensch, dem auf solcher Scholle die Wiege stand, hat schärfere Sinne; er sieht mit den Augen des Luchses und hört mit den Ohren des Wildes. Und wenn er gesättigt an dem Besten, was unser Wissen und Forschen zu bieten hat, zur künstlerischen Production schreitet, wenn er Gestalten formt und Schicksale nachschafft, so vereinigt sich dabei der Naturalismus mit der ergründenden Kraft; er braucht nur zu sagen, was er geschaut, nur zu erzählen, wie er es geschaut, und der Zauber ist von selbst da, der von einer bewältigenden, eigenartigen Individualität allezeit ausgeht.

Von diesem Iwan Turgenjew bleibt nur hübsch fort mit euren Kategorien, euren Reflexionen, euren Vergleichungen! Er ist, was er ist, und das Höchste, was der Dichter, der Künstler, was der gottbegnadete Mensch von sich sagen kann, ist dieses stolze: „Ich bin Ich.“ Turgenjew selbst äußert sich in einem mir freundlichst zur Verfügung gestellten Briefe über diese Unmittelbarkeit seines Schaffens wie folgt:

„Sie selbst wissen besser, als ich es sagen kann, daß der Schriftsteller keine vorgefaßten Ideen in Bilder kleidet. Das Alles wächst aus ihm heraus, halb bewußtlos. Sollte ich den wahren Grund meiner Thätigkeit angeben, so würde ich möglicher Weise sagen, ich habe es geschrieben, weil es mich selbst ergötzt hat. Das eigene Volk, das menschliche Leben, die menschliche Physiognomie – das ist das Bestimmende. Der Schriftsteller macht daraus, was er kann und was er nicht anders kann. Das ist eine sehr vage Theorie; für mich ist es die einzige …“

Und er schreibt das „Ich“ in seinen Briefen durchgehends mit großem Anfangsbuchstaben.

Jedoch nicht um die allgemeine kritische Würdigung Iwan Turgenjew’s, sondern nur um die Darlegung seines Verhältnisses zum Nihilismus kann es sich in dieser Betrachtung handeln, und wenn man den Punkt, auf welchen es dabei ankommt, mit einiger Sicherheit treffen will, so thut man wohl am besten, zu sagen, daß ihm zuerst der Nihilismus zum Kunstobject geworden.

Während Herzen und Bakunin von außen her das Mißvergnügen des russischen Volkes organisirten und nach der revolutionären Richtung lenkten, saß Turgenjew abseits in Baden-Baden. Sein Vergnügen war die Musikübung in der Nachbarvilla der befreundeten Familie Viardot, seine Kurzweil die Jagd. Wenn er, die Büchse auf der Schulter, durch den Wald schweifte, drängten sich Erinnerungen aus der Heimath an ihn heran, Gestalten, die von ihm reproducirt zu werden begehrten, wie sehr er sich auch sträubte. So ward der künstlerische Schaffenstrieb in ihm zum Herrn über die Tendenz von ehedem.

Dann stürzte Rußland, der Koloß mit den thönernen Füßen, krachend zusammen und begrub den Czar Nicolaus unter seinen Trümmern; Alexander, eine weichere Herrschernatur, bestieg den Thron der Romanows. Herzen und Bakunin wendeten sich direct an ihn, jener in einem offenen Briefe, welcher ihm die Verwandlung in einen constitutionellen Monarchen zumuthete, dieser, indem er ihn aufforderte, ein „Bauernczar“ zu werden. Die Antwort war jenes epochemachende Decret, das die Leibeigenen freigab.

Aber ach! an der halben Arbeit haftet immer ein Fluch. Die Befreiung der Leibeigenen war nichts, wenn der Beamtenstand nach wie vor in seiner Corruption verharren durfte. Die Freiheit ist eine Illusion, wo nicht das Recht an ihrer Seite wandelt. Einen Augenblick stutzten Herzen und Bakunin; sie schwankten, was angesichts des Emancipationsdecretes zu thun sei. Aber bald trieb der revolutionäre Geist sie vorwärts; schroffer, dreister als bisher ward der Unwille, den die halbe Erfüllung erweckte, und der Nihilismus trat im Sinne des offenen Widerstandes, wenn auch noch nicht mit seinem Namen, zu Tage; bald auch schrieb ihm einer der Seinen, Tschernyschewsky, eine Art Katechismus in der Form des Romans „Was sollen wir thun?“

Iwan Turgenjew beschied sich mehr als zehn Jahre mit tendenzlosem künstlerischem Schaffen; er bevölkerte deutsches Land, den Rheingau, den Schwarzwald, mit den Gestalten seiner Phantasie – oder vielmehr nicht seiner Phantasie; denn als unter Alexander’s Regiment die Auslandsreisen den Russen erleichtert wurden, zogen sie ihm nach und machten Baden-Baden zu ihrem Hauptquartier. Und dort konnte er ihnen, wie sehr er es auch wollte, nicht immer aus dem Wege gehen. Er hat sie dafür – und insbesondere ihre Frauen – mit seinem Roman „Rauch“ unbarmherzig gestraft. Jene Stelle von den drei Fürstinnen ist eine classische Satire; diese drei Fürstinnen sind: „Fürstin Babette, dieselbe, in deren Armen Chopin seinen Geist aufgab; dann Fürstin Annette, die ganz gewiß Effect machen würde, wenn nicht, wie Ambra- und Sauerkohlgeruch, bei ihr zuweilen das liebe Bauerndorf zum Vorschein käme; endlich Fürstin Pachette, deren Mann das Unglück hatte, in seiner hohen Stellung einen Kaufmann durchzuprügeln und 20,000 Rubel Regierungsgelder zu stehlen.“

Man darf aber daraus nicht etwa schließen, daß Turgenjew im Auslande der nationale Sinn abhanden gekommen wäre; im Gegentheil, seine Liebe zur Heimath und zu dem russischen Volke hatte sich vertieft; nur jenen hohlen Abenteurern und Abenteurerinnen, welche in der Fremde nutz- und ziellos, unter unerhörter Verschwendung umherflatterten, hatte er kein anderes Interesse zuzuwenden als das des Satirikers.

Zu kämpfen in jener Weise, wie er es im „Tagebuch eines Jägers“ gethan, hatte er kaum noch ein Recht. Die Leibeigenen waren ja frei, wie er es gefordert, und die Gesellschaft hätte sich selbst corrigiren müssen, um eines freien Lebens im Staate werth zu sein. Diese nichtsnutzigen Laffen und Koketten, welche die Spielsäle von Baden-Baden und Homburg bevölkerten – nach einer von diesen russischen Spielerinnen hat das dankbare Homburg eine Straße benannt – besaßen keinen Anspruch auf ein menschenwürdigeres Dasein, als es ihnen die russischen Verhältnisse gestatteten. Aber war das „Rußland auf Reisen“ denn das russische Volk? O nein, diejenigen, welche daheim mit Puschkin resignirt über ihr Schicksal geseufzt, mit Gogol schneidend über dasselbe gelacht hatten,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 579. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_579.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)