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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)


solche Freude gemacht. Ueberwältigt von den durch einander fluthenden Empfindungen, die ihm fast den Athem in der Brust zusammenpreßten, mußte er sich ein paar Secunden an die alte Kommode lehnen, dann aber entrang sich seinem Munde ein lautes:

„Hurrah, Kind! Nun können wir heute Abend doch unsere Gans essen und unseren Punsch trinken! Nun will ich aber doch gleich –“

Und hastig nach seiner Kappe greifend wollte der alte Meister mit Jünglingseile zum Zimmer hinaus.

Aber welch eine Zaubergewalt nagelte ihn auf einmal an den Boden und ließ ihn mit abgesperrten Augen nach der offenen Thür des anstoßenden Wohnzimmers starren? Waren es nicht Männerstimmen, die daraus hervordrangen? –

„Vater,“ sagte Lieschen leise und legte ihren runden Arm um seine Schulter, „der Gänsebraten ist fertig, und auch der Punsch, und Fritz und Fritzens Vater sind auch da. Und der Fritz hat auch drei Flaschen Brauneberger mitgebracht; denn Fritz ist gestern Meister geworden und –“

Aber Lieschen wurde am Weitersprechen verhindert; denn Fritz trat mit seinem Vater in die Werkstätte und nahm den alten Schneidermeister bei der Hand und schüttelte diese so herzlich, daß Jeremias vor Schmerz und Freude die Augen überliefen Und nachdem dann das wichtige Tagesereigniß und die daraus folgenden Consequenzen mit lauter Stimme wirr durch einander dem Alten in die Ohren posaunt worden und er Fritz und das liebe Töchterchen geküßt und dem letzterer sein Geburtstagsgeschenk, das neue Kleid, überhändigt hatte, schritten die vier armen glücklichen Menschen in’s Wohnzimmer und bewunderten die dort von Fritz und seinem Vater aufgestapelten Herrlichkeiten.

Jeremias aber, bevor er sich zu Tische setzte, schritt unter dem Vorwande, eine andere Jacke anziehen zu wollen, in die Werkstätte, nahm aus der mittleren Kommodenschublade – er fand es blindlings – sein „Unrecht des Rechts“ heraus und überlieferte es resignirt dem Feuermunde des geborstenen Arbeitsofens. Weder an jenem Abende, noch bei anderen Gelegenheiten hat er seine geliebten oppositionellen Weltverbesserungsideen wieder ausgekramt. Jenen Sylvestertraum aber hat er desto häufiger erzählt, und der Küster - mit welchem er in der Folge ganz gut Freund wurde – bezeichnete denselben stets als einen Finger Gottes.

Er hatte ihn nicht vergebens geträumt, den sonderbaren Traum, der socialdemokratische Schneidermeister. In emsiger, unverdrossener Thätigkeit, die nur durch’s Alter und die von Lieschen ihm geschenkten munteren Enkel manchmal unterbrochen wurde, füllte er sein Leben bis an sein seliges Ende mit solider Handarbeit aus, und eine besondere Freude gewährte es ihm, wenn er den Pfahlbürgern Schwatzhausens Sonntags Abends im „Goldenen Lümmel“ sozusagen aus eigener Anschauung versichern konnte, daß es im Himmel keine Nähmaschinen gäbe.





Der Vorläufer des St. Gotthardtunnel.

Eine Parallele zwischen Einst[WS 1] und Jetzt.

Unsere Zeit liebt das Außergewöhnliche, das Gigantische. Die Bauwerke der Gegenwart, mögen es hochgethürmte Viaducte oder unterirdisch gesprengte, langhin sich ausdehnende Felsentunnels sein, sie haben nur dann sich einer Beachtung zu erfreuen, wenn ihre Dimensionen das Gepräge des Großartigen und mit diesem zugleich die Grenzen des jetzt Erreichbaren ausweisen.

Seit längerer Zeit erfreut sich die Anlage und Ausführung des großen St. Gotthardtunnels der Beachtung der ganzen civilisirten Welt.

Angesichts solcher allgemeinen Beachtung, welche das bewunderungswürdige Bauwerk findet, dürfte ein Blick auf dessen Vorläufer nicht uninteressant sein. Derselbe, das Urner Loch, markirt eine entlegenere Zeit, eine bescheidenere Verkehrstechnik.

Wenn wir von dem Orte Göschenen bergaufwärts schreiten und somit über die nördliche Mündung des großen St. Gotthardtunnels hinweg, durch die Höllenschlucht der Schöllinen marschiren, gelangen wir in etwa dreiviertel Stunden zur Teufelsbrücke, um ungefähr fünf Minuten später das einstmals vielbewunderte Urner Loch zu erreichen.

Als im Jahre 589 n. Chr. die Langobarden von Süden her über den St. Gotthard zogen und nordwärts in die Thäler hinabsteigen wollten, fanden sie, am Nordende des weiten, ebenen Urseren Thales angelangt, eine wildromantische Felsschlucht, in die, in jähem Falle, rauschend und tosend, die Reuß sich hinabstürzte. An den Felswänden entlang wurde von den Langobarden eine theilweise Ueberbrückung der Schlucht angebracht, die, in Ketten hängend, Jahrhunderte hindurch den Weg in’s Reußthal hinab ermöglichte.

Erst im Jahre 1707 beschlossen die Bewohner des Urseren Thales, den Durchbruch des den Weg versperrenden Felsens ausführen zu lassen. Pietro Moretini aus dem Meyenthale (jetziger Canton Tessin) übernahm die Ausführung des Unternehmens, und am 18. October 1707 wurde mit den Arbeiten begonnen, und schon am 10. August 1708 konnte man den fertigen Tunnel passiren, sodaß die Langobardenbrücke nun überflüssig geworden war. Die Bewohner des Urseren Thales zahlten dem Pietro Moretini 8149 Münzgulden, und der Canton Uri gab die Bewilligung, daß von den Passirenden ein Wegegeld zu fordern sei, „bis die Unkosten wieder bezahlet“.

Der damals vielbewunderte und schnell berühmt gewordene Tunnel wurde zuerst das Urseler, dann aber allgemein das Urner Loch genannt. Die Dimensionen dieses Felsendurchbruchs werden mit zweiundvierzig Klafter und vier Schuh Länge, acht Schuh Höhe und sieben Schuh Breite angegeben. In der Mitte befand sich eine mit einem eisernen Gitter verwahrte Oeffnung, die gleich einem Fester den Blick in die Reußschlucht hinab ermöglichte.

Ein friedliches Dasein war dem Urner Loch während eines Zeitraumes von einundneunzig Jahren geschieden, und in buntem Wechsel durchzogen im Laufe der Jahrzehnte Kaufleute und Wanderer, Säumer und sonstige Reisende das Felsenthor.

Im Jahre 1799 marschirten dagegen österreichische, französische und russische Heeresmassen durch dieses Felsenthor, um die Schrecken des Krieges in die sonst so friedlichen und stillen Hochthäler zu tragen. Vom Mai bis August 1799 bekämpften sich Franzosen und Oesterreicher mit wechselndem Erfolge an den nördlichen und südlichen Abhängen des St. Gotthard; die Generäle Soult, Suchet Lecourbe und Haddik erschöpften alle taktischen Künste, und die gänzlich verödeten Hochgebirgsthäler bezeichneten den Schauplatz des in seiner Art seltenen Gebirgskrieges.

Im September des Jahres 1799 erschien am südlichen Fuße des St. Gotthard der hochbejahrte Marschall Suwarow mit einem russischen Heere, das circa 25,000 Mann und 5000 Pferde in seinen Reihen zählte. In verwegenen Angriffen theuere Erfolge erringend, drangen die Russen siegreich vor, um schließlich, vor dem Urner Loche angelangt, dasselbe verstopft zu finden. Die fliehenden Franzosen hatten um ihren Verfolgern das weitere Vordringen zu erschweren, einen Theil des Loches durch Sprengung und Verstopfung unwegsam gemacht.

Das Werk des Pietro Moretini, der erste Tunnnel, der am St. Gotthard sich befand, war jetzt ein strategisch wichtiger Punkt geworden, und gutgezielte Flintenschüsse, welche die Franzosen zwischen den Spalten der im Tunnel errichteten Steinbarricade hindurch abfeuerten, streckten dort manchen Russen zu Boden. Die Russen räumten den Schutt und die aufgerichteten Steinblöcke hinweg und marschirten, das Urner Loch passirend, nordwärts in das Reußthal hinab, um in neuen mörderischen Kämpfen das trügerische Waffenglück zu erproben.

Obwohl schon am 25. Juli 1775 der englische Mineralog Greville per Kutsche die erste Fahrt über den St. Gotthard gewagt und 1793 ein anderer Engländer dasselbe Experiment wiederholt hatte, war der Weg über den Berg bis in die Zeit von 1820 bis 1880 im Großen und Ganzen doch nur ein Saumpfad zu nennen. Als in jenen Jahren die heutige kunstvolle Straße über den St. Gotthard gebaut und gebahnt wurde, hat man auch das Urner Loch erweitert und vergrößerst und 1827 wird es als eine Felsengallerie von 210 Fuß Länge und von 12 bis 15 Fuß Höhe geschildert.

Daß dieser in der Gegenwart unbedeutend erscheinende Tunnel ehemals eine außerordentliche Berühmtheit und Wichtigkeit erlangte, wird uns erklärlich, wenn wir bedenken, daß über der St. Gotthard

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sonst
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 878. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_878.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)