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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

— also auch schon Vorbereitungen zur Illumination getroffen! Was wäre da mir noch übrig geblieben? Sollte ich unter jedem Arme einen Böller mitbringen, die Arkeley einüben oder den Chorgesang der Hirten und Feldbauern einstudiren?“

Die großen, grauen Augen vermochten da allerdings nichts weiter zu tadeln, und wenn auch die Hand noch ungnädig winkte, mußte das Köpfchen sich doch rasch zur Seite wenden, um das unbezwingliche Lächeln zu verbergen. Auch fand sich keine andere Antwort, als ein scheinbar unwilliges: „Ach, gehen Sie!“ Es konnte aber eigentlich ganz gut für ein „Kommen Sie!“ gelten; denn während sich das Fräulein der Thür zu bewegte, erfolgte an den sich Anschließenden bereits die Einladung in aller Form: „Wir wollen zu mir hinübergehen.“

Meinhard entschuldigte sich in ernsterer Weise, und während er eine Erklärung der Amtsangelegenheit gab, welche ihn Nachmittags über Land geführt, schritten Beide durch den Corridor, der von dem Haupttracte des Schlosses nach dem Seitenflügel führte, in welchem die Schwester des Gutsherrn ihre Wohnung hatte.

Es war ein ungemein traulicher Raum, den sie betraten; das milde Dämmerlicht, in dem die Zeichnung der dunkeln Tapeten und der Vorhänge, die Farben der Bilder und Möbelstoffe, die Formen des alten großen Ofens, des kleinen Sophas und der Fauteuils, sowie des breit aus der Ecke hervorstrebenden Claviers schon allmählich an Bestimmtheit verloren, erhöhte das Gefühl der Behaglichkeit, von der man hier umfangen wurde, noch mehr. Der rothe Schein am Abendhimmel hatte nicht mehr die Kraft, die leisen Schleier zu durchbrechen.

Hilda ging auf einen der Stühle in der Nähe der Fenster zu, und ihr Begleiter eilte dienstfertig voraus, die zwischen denselben befindliche Glasthür, von der einige Stufen in den Garten hinabführten, zu schließen.

„Nicht doch!“ wurde er gebeten, „lassen Sie offen!“

„Wir sind im September — es wird kühl.“

Der sorgliche Einwand fand aber seine Widerlegung.

„Es weht doch noch ein so frischer, wohlthuender Duft herein. Ich will das Jahr genießen, so lange als möglich, wie ich der Sonne nachsehen will, so lange noch ein Schimmer von ihr am Himmel ist. Gerade das ist es, was mir die Zimmer hier so lieb macht; sie gehen nach Westen, und das Schönste an Waltershofen ist, daß da drüben keine Berge liegen und die Sonne so spät untergeht. Ich möchte sie immer noch länger halten.“

„Das sind recht wehmüthige Gedanken.“

„Pfui! Wer wird denn sentimental werden, Freund! Nun kennen Sie mich schon so lange Jahre. Sie werden doch nicht glauben, daß ich mich in allegorischen Bildern ergehen will und um das Altwerden mich kümmere?“

„Das haben Sie wahrlich auch nicht nöthig,“ sagte er eifrig, und die Betheuerung, welche mit einem skeptischen Achselzucken aufgenommen wurde, kam dem Freunde vom Herzen.

Der matte Schein des sinkenden Gestirns, auf dessen purpurnen Mantelsaum sich ihre ernsten, weitgeöffneten Augen gedankenvoll richteten, zauberte hellen Goldglanz auf das braune Haar, das in üppigen Wellen die Stirn umfloß, und rief auf dem lieblichen Gesichtchen, wenn es auch nicht mehr die Fülle und den Sammethauch der ersten Jugend hatte, mit dem Spiele der zarten Farbe wunderbare Reize wach, die nichts mit der Melancholie des Abendroths gemein hatten.

Ein kurzes Schweigen trat ein, während so jedes von ihnen in seine eigenen Betrachtungen versunken blieb.

„Woher doch manchmal solch einfältige Stimmungen kommen!“ sagte Hilda, „aber diesmal sind Sie schuld daran. Warum unterlegen Sie meinen Worten eine ganz andere Deutung? Ist das alles, was Sie mir an Unterstützung bringen können, nachdem Sie mich den halben Tag in Unruhe allein gelassen?“

„Sie wissen, daß Sie in Allem auf mich zählen können, aber ich kann mir nicht denken, daß Sie meiner wirklich bedurften. Unruhe ist wohl ein zu gewichtiges Wort.“

„Keineswegs!“ fiel sie lebhaft ein und nahm von einem kleinen Tischchen, auf dem mehrere Photographien zerstreut lagen, ein Blatt Papier. „Da! Entziffern Sie selbst einmal das Telegramm, das wir heute Vormittag von Franz erhielten!“

Er las: „,Wir kommen heute Abend an. Es bleibt bei den Bestimmungen des Briefes. Zimmer bereit halten,‘“ und fast ehe er beendigt hatte, fiel sie schon wieder ein:

„Daraus soll man nun klug werden. Welches sind diese Bestimmungen? Was ist’s mit den Zimmern? Es versteht sich ja von selbst, daß wir die bereit halten, warum gerade das ausdrücklich betonen und uns telegraphisch auf die Seele binden? Stände dafür lieber etwas von den nicht selbstverständlichen ,Bestimmungen‘ da, die mein Herr Bruder zu treffen geruht! Wie sollen wir die errathen? Gott mag wissen, wo der Brief steckt, in welchem sie uns kund und zu wissen gegeben werden. Ich habe keine Zeile gesehen.“

„Warten Sie!“ überlegte Meinhard; „wenn der Brief gestern Vormittag geschrieben wurde, dann ist er wohl statt mit dem Nachtschnellzuge mit dem Postzuge gegangen, den jener überholt. Er ist also erst nach Amtschluß eingetroffen und wird erst morgen früh ausgegeben werden — ein Fall, der, so absurd er auf den ersten Blick erscheint, doch häufig eintritt. Die Letzten werden die Ersten werden.“

„Aber der Bibelspruch hätte wohl auch meinem Bruder vorschweben können! Sagen Sie mir, sind denn alle Ehemänner auf der Hochzeitsreise so — so gedankenlos?“

Er sah die Fragestellerin eigenthümlich an.

„Wie soll ich das wissen?“ entgegnete er, auf das „ich“ den Ton legend. „Es ist nicht meine Schuld, daß ich darüber keine Auskunft geben kann.“

„Seien Sie froh, daß Sie davor bewahrt blieben!“ lachte Hilda auf. „Statt alte, längstvergangene Geschichten aufzuwärmen, sollten Sie lieber Ihre Divinationsgabe anstrengen und mir sagen, was dieser fatale nachhinkende Brief enthält.“

„Tantchen, ich hab’s!“ rief da eine helle Stimme von der Thür her, welche in die weiteren Gemächer derselben Reihe führte.

Das Mädchen, welches, vollkommen zum Ausgehen gekleidet, mit halbem Hüpfen über den Teppich glitt, hatte zwar die Größe und Toilette einer Dame, aber Haltung, Figur, Organ und der Ausdruck des munteren Gesichtchens verriethen noch deutlich den Mangel voller Entwickelung.

„Was hat Fräulein Mimi?“ fragte Meinhard wohlwollend, wie etwa ein Vater sein Töchterchen neckt.

„Guten Abend, guten Abend, Onkel Meinhard!“ begrüßte ihn die Kleine fröhlich, ohne sich aber in der Mittheilung ihrer Entdeckung aufhalten zu lassen. „Ich hab’s, Tantchen! Weißt Du, was es ist? Papa bringt uns den Onkel mit.“

„Wilhelm?“ fragte Hilda leise, und mit seltsamem Tonfalle fügte sie hinzu: „Du vergißt, daß Amerika —“ Sie schwieg und seufzte.

„Ach nein, nicht den richtigen Onkel,“ erklärte Mimi, die letzten Knöpfe ihres rehfarbenen Paletots schließend.

„Doch nicht etwa mich?“ fragte Meinhard verwundert.

„Sie sind ja schon da,“ entgegnete Mimi, als ob sie eigentlich sagen wollte: „Wie einfältig!“ Dann schlug sie die Händchen zusammen und drückte dieselben, sich niederbeugend, zwischen die Kniee, wobei ihre Augen vor Vergnügen leuchteten. „Errathet Ihr’s denn nicht? Ich meine den neuen — den jungen Onkel. Wie spaßig das war, als ich ihn beim Gabelfrühstück nach der Trauung so ansprach! Da war es doch schon in der Ordnung — nicht wahr? Wie hätte ich denn auch sagen sollen? Und wie er sich’s so ernstlich verbat, da sagt’ ich es erst recht. Das klang so närrisch. ‚Onkel!‘ Hahaha! Bin ich hübsch so, Tantchen?“

Sie strich mit den Fingern die Falten ihrer Kleider glatt und machte dann einen tiefen Knix, wie bei Hofe.

„Es ist recht,“ sagte Hilda, „daß Du Dir Mühe giebst, Deiner neuen Mama gleich einen guten Eindruck zu machen.“

„Ach, der Stiefmutter!“ fiel die Kleine ein, aber der wegwerfende Ton verstummte sogleich unter dem verweisenden Blicke der Tante; sie wandte sich erröthend zur Seite, im nächsten Momente aber hing sie an Hilda’s Halse. „Ich frage nur nach Deinem Urtheile, liebes Tantchen, nur nach Deinem!“

Den Schmeichellauten war schwer zu widerstehen; was an Vorwürfen die Liebkosungen nicht erstickten, das schnitt die schlaue Mahnung ab, daß Tantchen ja noch immer nicht für die Ausfahrt fertig sei und der Wagen gleich vorfahren werde; man dürfe doch nicht zu spät auf dem Bahnhofe eintreffen.

„Das ist bald geschehen; ich brauche nur Hut und Mantel, und wir kommen noch lange zurecht,“ erwiderte Hilda, und band die weiße Wirthschaftsschürze ab, die sich von dem schwarzen Seidenkleide recht hausmütterlich abgehoben hatte. „Sage mir lieber, wie Du auf Deine sonderbare Vermuthung kommst!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_002.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)