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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

noch der Zuversicht, ihre Gesinnung werde getheilt, hingeben konnte. Sie war betroffen, dann bäumte sich aber doch etwas in ihr auf gegen ein stilles ergebungsvolles Hinnehmen der Lehre, die ihr wie eine Ungerechtigkeit vorkam. Sie wollte dagegen plänkeln, und plauderte, je länger sich jetzt Hilda stumm verhielt – was doch offenbar ein Zeichen fortwährender Mißbilligung war – immer lebhafter, um sich selbst glauben zu machen, daß die Ungnade nur leicht zu nehmen sei, bis endlich das Rasseln der Räder auf dem Pflaster der Stadt diesen Anstrengungen ein Ziel setzte.

Aber auch nachdem das Geräusch beim Einbiegen in die nach dem Bahnhof abzweigende Allee ein Ende genommen, fand sich ihre Beredsamkeit nicht wieder ein. Die Strecke war übrigens nur noch kurz, und als der Wagen hielt, hörte man schon das Gebimmel der elektrischen Klingel, welche die Abfahrt des Zuges von der letzten Station signalisirte. Der durch den Taschenspieler verursachte Aufenthalt hatte doch beinahe zu einer Verspätung geführt, und die Damen mußten sich beeilen, auf den Perron zu gelangen.

Der Stationschef grüßte sie mit besonderer Ehrerbietung und gab auf Meinhard’s Frage die Versicherung, daß immerhin noch fünf bis sechs Minuten bis zur Ankunft des Zuges vergehen würden. Fast unwillkürlich nahm Hilda Meinhard’s Arm, um sich von ihm durch die drängenden Menschen zu einem ruhigen Plätzchen führen zu lassen. Manchen Gruß hatte er dabei zu erwidern, der nicht nur der hervorragenden Stellung in der kleinen Stadt, sondern auch der persönlichen Beliebtheit des angesehenen Mannes galt; dennoch wurde seine Aufmerksamkeit nicht so ganz abgezogen, daß ihm der ungewöhnliche Ernst seiner Begleiterin und ihre Blässe entgangen wäre, die freilich einem weniger theilnehmenden Auge in dem Scheine der spärlichen Laternen kaum aufgefallen sein dürfte. Er benutzte das Alleinsein mit ihr; denn Mimi war ein wenig abseits damit beschäftigt, Fritz die beiden großen Bouquets abzunehmen, mit denen er den Damen gefolgt war.

„Was ist Ihnen?“ wiederholte Meinhard seine schon früher gestellte Frage. „Hat Sie Mimi’s Geplauder verstimmt, und ist Ihnen, indem Sie das Kind auf Theilung der Pflichten verwiesen, plötzlich auch der Gedanke an die Theilung Ihrer Rechte erschreckend nahe getreten?“

Hilda schüttelte mit leisem Lächeln den Kopf.

„Mimi’s Herz wird mir ja immer bleiben,“ entgegnete sie überzeugt. Sie hatte vielleicht eine Zustimmung erwartet, statt derselben aber ging der Freund nach einer kurzen Pause in seinen Nachforschungen weiter.

„Dennoch ist etwas vorgefallen, was Ihr schönes Gleichgewicht stört,“ sagte er mit der Bestimmtheit eines Menschen, der aus der jahrelangen Beobachtung eines Anderen und aus dem liebevollen Eingehen in dessen Wesen beinahe jeden seiner Gedanken zu errathen gelernt hat. „Ist am Ende wieder ein Brief aus Amerika gekommen?“

„Was bringt Sie gerade darauf?“ fragte sie überrascht.

„Es sind eben schon wieder mehrere Monate verstrichen, seit jene Frau an Ihr gutes Herz appellirte. Die Perioden waren sonst nicht so lang gestreckt und pflegten sich sogar in einer gewissen Regelmäßigkeit zu verkürzen, genau der Willfährigkeit entsprechend, mit der Sie Ihre Sparbüchse, allen Abmahnungen entgegen, in dieses Danaidenfaß leeren. Es wäre auch zu verwunderlich, wenn die Ausdauer der Begehrenden eher ermüden sollte, als die Geduld der Spenderin.“

„Sagen Sie: das Mitleid.“

„Es dünkt mich sehr übel angebracht, dieses Mitleid, und es wird ohne Scham mißbraucht, um Sie gewissenlos auszusaugen.“

„Davor bin ich ja durch doppelte Vorsorge hinreichend geschützt; Franz und Sie behandeln mich ja ohnedem wie ein unmündiges Wesen, und ich glaube, ich müßte vor Gericht klagbar werden, um nur wieder das Dispositionsrecht über mein Eigenthum zu erlangen.“

„O, es würde dessen bei mir nicht bedürfen, wenn Sie mir Ihr Vertrauen entzogen haben –“

„O, nicht diese Empfindlichkeit, Meinhard! Sind Sie denn nicht mein Freund?“ unterbrach sie ihn, seine Hand mit leisem Drucke fassend, und sah dabei so voll Herzlichkeit zu ihm auf, daß auch ein weit tieferer Groll unter diesem Strahl hingeschmolzen wäre. „Ich weiß ja, Sie meinen es gut mit mir, und Sie schneiden auch sonst meine Erörterungen nicht mit der Barschheit meines Bruders ab, doch eben darum sollten Sie auch ein wenig Nachsicht mit meinen Empfindungen haben. Mein Mitleid gilt ja nicht Wilhelm, obgleich er mein Bruder ist. Er hat sein Schicksal verdient; er hat Schande über uns gebracht, und nicht einmal die Folgen seines Verbrechens haben ihn zur Umkehr geführt. Unmännlich, thatlos und ohne Energie ist er geblieben. Für ihn habe ich keine Regung des Mitgefühls; ihm wäre es gleich, wenn sich Franz vollends für ihn zu Grunde gerichtet hätte und Waltershofen, das ohnehin so schwer zu erhalten gewesen, ganz für uns verloren gegangen wäre. Er hat nie eine Rücksicht gegen uns gezeigt – seine Liebenswürdigkeit war nur Schwäche. Aber Derjenigen kann ich meine Theilnahme nicht entziehen, die am Schwersten darunter leidet.“

„Und die Ihnen jene impertinenten Briefe schreibt, in denen aus einander gesetzt wird, daß eine Frau von Reinach das Recht nicht nur auf die Anerkennung, sondern auch auf die Unterstützung der Familie habe, die ihr beides rücksichtsloser Weise verweigere.“

„Sie kämpft für ihr Kind,“ sagte Hilda und sah mit ernstem Nachdenken zu Boden.

„In der kecken Weise der einstigen Soubrette vom Theater.“

„Was auch ihre Vergangenheit gewesen sein mag, jetzt ist sie einmal Wilhelm’s Frau und die Mutter seines Kindes. Ich kann nicht ohne Mitleid an die Beiden denken, wenn ich mir vorstelle, wie dürftig, wie elend sie sind, vielleicht nahe am Verhungern, trotz des unablässigen Kampfes und der Arbeit, mit welcher diese Frau eine Existenz möglich zu machen sucht, die ihres Mannes Leichtsinn und Arbeitsscheu immer wieder in Frage stellt.“

„Ihr gutes Herz dichtet Zaubermärchen. Unsere Berichte –“

„Ich vertraue meinem Gefühle mehr als allen Berichten. Nehmen Sie mir den Glauben nicht!“

„Und das Seelenbedürfniß, sich immer für andere zu opfern.“

„Auch das kann Glück sein.“

Sie sagte das so innig und voll so tiefer Ueberzeugung, daß Meinhard bewegt auf sie niedersah.

„Das Glück der Märtyrer,“ sagte er leise, „und die werden heilig gesprochen.“

„Ach, darnach trage ich kein Verlangen,“ entgegnete sie lächelnd. Sie hob freundlich ihren Blick zu ihm auf; doch es lag nicht in ihrem Wesen sich rühren zu lassen, und auch jetzt wurde sie durch die feucht blickenden Augen ihres Freundes nicht gerührt. Wohl aber regte sich das Vertrauen in die alte treue Freundschaft, der Mittheilungsdrang, und entschlossen begann sie: „Wissen Sie denn –“

Wie zur Strafe für ihr früheres Zögern blieb es ihr aber jetzt versagt, zu vollenden. Die Fortsetzung wurde unbarmherzig von dem Gellen des „ersten Läutens“ verschlungen.

Unwillkürlich wandte Hilda den Kopf gegen den einfahrenden Zug und trat einen Schritt vor, wie alle Andern, die hier harrten. Den Augenblick benützte auch Mimi, um der Spannung ein Ende zu machen, die sich deutlich genug – wie sie meinte – in der Achtlosigkeit kundgegeben, mit der sie behandelt und von der Unterhaltung ausgeschlossen worden.

Sie schlang die Arme um Hilda.

„O Tantchen, bist Du noch böse?“ flüsterte sie mit gepreßter Stimme. „Bitte, bitte, sei wieder gut! Ich habe ja doch nur Dich lieb, aber ich will so freundlich wie nur möglich gegen die neue Mama sein. Gewiß!“

„Das setze ich voraus,“ tröstete die durch den Ueberfall Ueberraschte das dem Weinen nahe Kind. „Ich wußte es, und Deinen Papa wird es freuen.“

„Und Du bist nicht mehr böse? Ach, Du kannst ja gar nicht böse sein.“ Und in raschem Umschwunge, die zurückgedrängten Thränen noch im Auge, lächelte Mimi und küßte das Tantchen mit nochmaliger stürmischer Umarmung.

Sie sahen aus wie zwei im Alter wenig verschiedene Schwestern, die sich trennen sollten. Niemand außer Meinhard hatte den kleinen Zwischenfall beachtet; Abschiedsscenen spielten sich ja mehrere ab auf dem Perron.

Der Zug hielt; die Thüren öffneten sich, und in dem Gewirre der nach den Coupés Drängenden und der Aussteigenden war bei der schwachen Beleuchtung einen Moment lang kaum Jemand zu erkennen. Mimi hatte sich am ersten orientirt.

„Ah, da sind sie! da sind sie!“ rief sie. „Hab’ ich Dir’s nicht gesagt, daß er mitkommt? Nein, wie drollig! Er sucht uns

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_023.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)