Seite:Die Gartenlaube (1882) 094.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Zum Abbruch verurtheilt!

Ein letzter Besuch im Kerker von Newgate.
Londoner Skizze von Leopold Katscher.
(Schluß.)

Unsern Gang durch das Gefängniß fortsetzend, erlangen wir endlich Zutritt in den Zellenraum, in welchem die Häftlinge den Schlußverhandlungen und der damit verbundenen Freisprechung oder Verurtheilung entgegen sehen. Dieser Raum besteht aus drei Stockwerken und enthält alle Zellen, die es in Newgate giebt, etwa zweihundert. Jede Zelle ist sechs Schritt lang und zwei Schritt breit, und in der oberen Hälfte der der Thür gegenüberliegenden Wand befindet sich ein vergittertes Fenster, das Licht und Luft spendet; unter demselben stehen das Waschbecken und ein Gefäß zum Ausleeren des unreinen Wassers nach dem Waschen. Neben der Thür sehen wir ein Gestell, auf dem das Eßgeschirr, das Bettzeug und einige Bücher frommer Natur Platz finden. Der Häftling darf lesen, was er will, auch schreiben und sonstige Arbeiten verrichten, falls dabei keine Stich-, Hieb- oder Schneidewerkzeuge zur Verwendung kommen, also nichts, was zum Selbstmord reizen könnte. In keiner Zelle darf länger als bis acht Uhr Abends Licht sein; denn die Gefängnißdisciplin erfordert, daß zu dieser Stunde jeder Häftling sich schlafen lege; zu diesem Behufe breitet er das übrigens recht warme Bettzeug über die Breitseite der Zelle in der Nähe der Thür auf die Erde, von der er sich um sechs Uhr Morgens wieder erhebt. Ein Tischchen, ein Stuhl ohne Lehne, ein Thermometer und ein Glockenzug vervollständigen die Einrichtung der Zelle.

Es steht dem Gefangenen frei, von zehn bis zwölf Uhr Vormittags und von zwei bis vier Uhr Nachmittags auf dem Spazierhofe zu promeniren.

Wird ein Gefangener eingebracht, so muß er vor Allem ein Bad nehmen, und er hat die Wahl zwischen kalt und warm. Während des Bades untersucht ein Wärter seine Kleider, nimmt aus denselben alles Reglementswidrige heraus und trägt sie dann in eine der zu ebener Erde belegenen Zellen, in der der Ankömmling bleibt, bis ihn der Hausarzt am nächsten Morgen untersucht; ist er krank, so kommt er in’s Hospital, andernfalls in eine Zelle der oberen Stockwerke, und dort bleibt er, bis er entweder freigesprochen oder verurtheilt wird. Führt er sich gut auf, so hat er sich nicht mehr wie einst über schlechte Behandlung zu beklagen, auch nicht über Mangel an Licht und Reinlichkeit. Die Zellen machen, wie das ganze Innere dieses Gebäudes, den Eindruck der Freundlichkeit und strengsten Reinlichkeit. Beträgt er sich widersetzlich, so können verschiedene Disciplinarstrafen über ihn verhängt werden; in der Regel entzieht man ihm die Gefängnißkost und reicht ihm nur Wasser und Brod, oder man verkleinert ihm seine Portionen. In manchen Fällen schließt man ihn in Eisen; doch darf der Gouverneur dies nur auf einen Tag thun; für eine längere Fesselung bedarf er eines schriftlichen Befehles des Untersuchungsrichters des Betreffenden. Die härteste Strafe ist das Einsperren in eine dunkle Zelle, doch kommt dieselbe, wie man uns mittheilte, seit vielen Jahren fast nie mehr zur Anwendung, und so benützt man denn die Vorhalle des Dunkelzellenraumes einstweilen als Tischlerwerkstätte.

Wer bei einer Schlußverhandlung zu einer Kerkerstrafe verurtheilt wird, den überführt man alsbald in eines der Strafgefängnisse Londons oder der Provinz. Wird aber ein Insasse von Newgate zum Tode verurtheilt, so weist man ihm sofort nach der Verhandlung eine der beiden „Condemned Cells“ (Zellen der zum Tode Verurtheilten) an, wo er die Zeit bis zu seiner Hinrichtung verbringt. Diese Zellen haben fast dieselbe Einrichtung wie die anderen; nur sind sie doppelt so groß und enthalten zwei Fenster, zwei Sitzbänke und ein hölzernes Bettgestell.

Seit 1868 finden die Hinrichtungen im Gebäude selbst statt. Die jetzige Generation erinnert sich noch der Scenen, zu denen die öffentlichen Hinrichtungen vor Schaffung des 1868er Gesetzes Anlaß gaben. Dieselben fanden auf dem Platze vor Old Baily am Montagmorgen statt. Sonntags um Mitternacht begann vor dem Richtplatz ein Pöbelhaufe sich zu versammeln – hauptsächlich das gefährliche Gesindel, das die schmutzigen, übelriechenden, verrufenen Seitengäßchen („slums“) bewohnt.

Die Menge schlenderte anfänglich lachend, jodelnd und scherzend umher und tummelte sich in den Schenken, welche die ganze Nacht hindurch offen blieben. Später kauerten die Weiber und Kinder sich in Winkeln und Thorwegen und auf Stiegen nieder, um ein wenig zu schlummern. Der rohe, gemeine, betrunkene Mob wuchs immer mehr an, und die Wirthe machten glänzende Geschäfte, indem sie in die oberen Fenster ihrer Häuser Sessel stellten und dieselben um zweiundeinhalb bis einundzwanzig Schilling an „feine Herrschaften“ vermietheten. Etwa um drei Uhr Morgens öffnete sich die Thür des Schuldengefängnisses, und die Basis des Gerüstes wurde auf Rädern in die Straße gefahren. Jetzt rissen sich die Schlummernden aus Morpheus’ Armen los und beobachteten mit den Uebrigen die Errichtung des Galgens. Während die Zimmerleute ihre Hämmer schwangen – die Insassen der condemned cells konnten es hören – wurden sie vom Volke gehänselt; dieses fluchte und schimpfte in fürchterlicher Weise und erging sich in den rohesten, gemeinsten Späßen. Endlich war der fertige Galgen in der Morgendämmerung deutlich zu erkennen – ein Gespenst bei anbrechendem Tage.

Bald ertönte im Glockenthurme der gegenüberliegenden Kirche zum „Heiligen Grabe“ Todtengeläute, und der Hausgeistliche erschien, von den Sheriffs, dem Henker, den Kerkermeistern und dem armen Sünder gefolgt, in der „Schuldenthür“. Die Zuschauermenge konnte den Gottesdienst hören, konnte bemerken, wie der Henker dem Delinquenten die Mütze über das Gesicht zog, konnte ihn aufknüpfen und sterben sehen. Schreckliche Neugierde!

Der Henker pflegte abergläubischen Zuschauern das benützte Seil nach der Hinrichtung um einen Schilling per Zoll zu verkaufen; aber er hatte Concurrenten, die in dem Gedränge umhergingen und falsche Galgenreliquien um einen Penny bis sechs Pence feilboten. Ein gewisser Catnach, der in dem berüchtigten Stadttheil Seven Dials wohnte, besoldete einen „Dichter“, der die Bekenntnisse und den Schwanengesang jedes Hinzurichtenden in Verse bringen mußte, die dann, mit einem rohen Holzschnitt des Galgens illustrirt, gedruckt und sofort nach dem Fallen des Seiles in Umlauf gesetzt und verkauft wurden.

Seit 1868 sind die Hinrichtungen glücklicher Weise nicht mehr öffentlich. Sie finden in einem Holzverschlage statt, der in einem Hofe von Newgate steht und in welchem der Galgen permanent aufgerichtet ist. Der Verschlag ist so klein, daß nur etwa zwanzig Personen darin Platz haben. Unser Führer theilte uns mit, daß er zu seinem Leidwesen jeder Justificirung beiwohnen müsse; außerdem müssen der Hausgeistliche und der Untersuchungsrichter des betreffenden Unglücklichen dabei sein, früher auch ein City-Sheriff. Während der traurigen Arbeit wird die obere Hälfte des Holzverschlages geöffnet, damit die Vertreter der Presse, welche noch immer Zutritt haben, den Vorgang beobachten können; leider bringen viele Blätter über jede Hinrichtung widerlich ausführliche Berichte.

Unter dem Galgen befindet sich eine aus zwei langen Brettern bestehende Fallthür, auf die der arme Sünder zu stehen kommt. Dieser wird mittels des von Wetherett erfundenen Riemens, den wir im „Fesseln-Museum“ gesehen haben, gebunden; sodann vollbringt der Henker sein kurzes, aber gräßliches Werk, und in demselben Augenblick wird ein Hebel in Bewegung gesetzt, der die Fallthür öffnet, durch die der Gehenkte mit gebrochenem Genick in die darunter befindliche Grube stürzt. Alsbald steigt ein Henkersknecht eine an der Seite des Galgens liegende Treppe hinab, legt die Leiche in einen mit Aetzkalk gefüllten Sarg und trägt denselben nach dem Begräbnißhofe, wo so viele „große“ Verbrecher den ewigen Schlaf schlafen.

Während der Hinrichtung – deren Zeit sich nach der Uhr der Kirche „Zum heiligen Grabe“ richtet – werden noch immer die Glocken dieses Gotteshauses geläutet, wahrscheinlich weil es das nächste ist. In früheren Zeiten, als die Todesstrafe noch in Tyburn vollzogen wurde, erhielt jeder Delinquent auf dem Wege nach dem Richtplatze in dieser Kirche einen Blumenstrauß. Um Mitternacht vor dem Hinrichtungsmorgen ging der Meßner der Kirche „Zum

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_094.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)