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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

heiligen Grabe“ um die Gefängnißmauern herum, seine Glocke läutend und dabei ein Lied singend, das in deutscher Uebersetzung etwa Folgendes besagt:

„Die Ihr in dem Haus der Verurtheilten seid,
Nun macht Euch für morgen zum Sterben bereit!
Und betet; denn nahe die Stunde ist,
In der vor der Allmacht erscheinen Ihr müßt!
Erforschet Eu’r Inn’res, bereuet bei Zeiten,
Daß die Höll’ Euch nicht fesselt für Ewigkeiten!
Wenn morgen die Glock’ uns’rer Kirche Euch Armen
Ertönt, habe Gott mit Euch Erbarmen!
Es hat zwölf geschlagen.“

Zu den Celebritäten im guten und schlechten Sinne, die in Newgate saßen, zählen die berühmten Dichter Crabbe, Wither und Sackville, welche hier wegen Schulden eingesperrt wurden, ferner William Penn, welcher wegen des Predigens auf der Straße eine Strafe verbüßte, sowie Daniel Defoe, der Verfasser des „Robinson Crusoe“, wegen der Herausgabe seiner Broschüre „The shortest way with dissenters“. Der populäre Räuber Jack Sheppard, den sowohl Defoe als auch der soeben verstorbene bekannte Belletrist William Harrison Ainsworth zum Helden von Romanen gemacht haben, gehörte gleichfalls zu den unfreiwilligen Einwohnern des düsteren Hauses am „Neuen Thor“.

Unser Rundgang ist beendet. Wir werden in das Vorzimmer zurückgeführt, müssen dort unseren Namen in das Buch der Besichtiger eintragen und treten durch das Bureau des Directors, der uns noch einige auf den Kerker bezügliche Aufschlüsse giebt, den Rückweg an. Wie uns der Gouverneur sagte, wird das Gebäude zwar vorläufig noch nicht niedergerissen, sondern soll vor der Hand die Bestimmung erhalten, die Gefangenen am Tage ihrer Schlußverhandlung aufzunehmen, aber es kann nicht mehr lange dauern, und das aus dem zwölften Jahrhundert stammende Gefängniß von Newgate wird der Vergangenheit angehören. Die Citywelt erwartet die Demolirung schon mit Ungeduld; denn auf dem Grund des berüchtigten Kerkers sollen Comptoire und Magazine errichtet werden, und Grund und Boden sind in der City bekanntlich gar kostbar.


Der Reis im deutschen Volkshaushalt.

Ein neues volksthümliches Gericht wäre heute unzweifelhaft eine Wohlthat; denn es ist eine allgemein bekannte Thatsache, daß in dem Maße, wie Bildung und Gesittung zunehmen, wie demgemäß das Nervenleben mehr in den Vordergrund tritt, Abwechselung in den Speisen zu den Erfordernissen eines wirklich guten Mittagstisches gehört – gerade wie Abwechselung der Beschäftigungen gesund und frisch und kräftig erhält.

Aus diesem Gesichtspunkt muß man es ansehen, nicht aber als eine Verdrängung der Kartoffeln oder irgend eines anderen hergebrachten Volksnahrungsmittels, wenn der Reis in der Volksküche neuerdings eine breitere Stelle einzunehmen trachtet als bisher. Die Kartoffel herrscht wohl vielerwärts thatsächlich auf dem Tische der Armen, aber doch nicht von Rechtswegen und für alle Zeit uneingeschränkt. An dem Alters-Maßstabe der Nationen gemessen, ist sie ja selber noch ein Emporkömmling; denn erst gegen Ende des sechszehnten Jahrhunderts brachte der berühmte englische Seefahrer Franz Drake sie von ihrer Heimath, den Höhenzügen des westlichen Süd-Amerika, nach Europa mit, und erst im Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts gelangte sie nach Deutschland, wo man sie keineswegs sofort zu würdigen wußte.

Die beiden großen preußischen Könige Friedrich Wilhelm der Erste und Friedrich der Zweite haben sich lange vergeblich bemüht, die Kartoffel in ihren Staaten allgemein einzuführen. Die Hungersnoth von 1745, die Theuerungen von 1771 und 1772 mußten ihnen dafür zu Hülfe komme. Seitdem freilich ist die Kartoffel in Deutschland wie anderswo zu einer Nahrungspflanze ersten Ranges geworden, und wenn eine mittellose Familie ihr Auge auf Grunderwerb richtet, so geschieht dies eigentlich nur, weil sie sich nach dem Anbau der Kartoffel sehnt. Heute noch ermöglicht in der deutschen Reichshauptstadt die Armenverwaltung einigen hundert oder tausend dürftigen Leuten, sich selbst Kartoffeln zu bauen, indem sie Land im Großen pachtet und im Kleinen etwas billiger wieder verpachtet.

Die Kartoffel lohnt den auf sie verwendeten Fleiß durch hohe Erträge und ist ein gutes Nahrungsmittel. Aber der Reis ist mindestens kein schlechteres. Wie würden sonst auch Hunderte von Millionen Menschen – man pflegt in Bausch und Bogen zu sagen: die Hälfte der lebenden Menschheit – hauptsächlich oder fast ausschließlich von Reis leben? Seiner Zusammensetzung[WS 1] nach hat er vor der Kartoffel voraus, daß er nur etwa ein Sechstel seines Gewichtes Wasser enthält, letztere aber drei Viertel. Von der Kartoffel kann der Mensch nach den sehr geschätzten Untersuchungen des Professor Voit im Physiologischen Institut zu München fast ein Zehntel nicht verwenden und scheidet es ungenützt wieder aus, vom Reis kaum ein Fünfundzwanzigstel. In dieser Hinsicht kommt Reis gleich nach dem Fleische und vor allen Bodenfrüchten. Er belästigt und spannt folglich die Verdauungskraft am wenigsten. Es giebt wohl Kartoffelbäuche, aber keine Reisbäuche. Die Massen von Reis, welche Chinesen und Hindus tagtäglich zu sich nehmen, erscheinen dem Europäer unglaublich, weil von keinem seiner heimischen Volksnahrungsmittel gleich große Beträge dem Nahrungswerthe nach fortgesetzt ohne Beeinträchtigung des Körpers genossen werden könnten. Denn das freilich ist eine Fabel, daß angestrengt arbeitende Völker oder Volksclassen irgendwo in der Welt sich mit geringer Nahrung kräftig und gesund erhielten. Sie leben auch vom Reis schwerlich irgendwo ganz allein: Fische, Bohnen oder Erbsen pflegen überall hinzuzukommen, aber der Reis kann wegen seiner ausgezeichneten Eignung für unsere Nahrungszwecke massenhafter ohne Schaden gegessen werden, als irgend ein anderes Erzeugniß des Pflanzenreiches.

Das gilt – wohlgemerkt! – vom Reis, aber darum noch nicht gerade von den Reisgerichten, welche bei uns in Deutschland hergebracht sind. Mit Milch, Zucker und Zimmt kann man ihn kaum alle Wochen, geschweige denn täglich essen; ebenso wenig mit Aepfeln oder Pflaumen gemischt. Diese Zuthaten sind es, welche bewirken, daß das Reisgericht bei allzu häufiger Wiederholung dem Geschmacke widersteht, die Verdauungsorgane angreift und für den schmaleren Beutel die Mahlzeit auch zu sehr vertheuert.

Im fernen Osten bereitet man den Reis ganz anders, einfacher, billiger, auf die Dauer zusagender und bekömmlicher zugleich. Man setzt ihn, wie Kartoffeln, lediglich mit Salz auf’s Feuer, und nach der ersten Viertelstunde läßt man ihn nicht in Wasser, sondern trocken in Wasserdämpfen garkochen. Dabei wird nicht ein weicher Brei aus ihm, wie wir ihn auf unserer Tafel zu sehen gewöhnt sind, sondern die Körner bleiben gesondert und ganz erhalten, werden nicht ausgelaugt und haben jenen kräftigeren, ich möchte sagen männlicheren und ernsteren Geschmack, der nicht so bald widersteht. Sie schmecken Einem dann, wie Brod und gute Kartoffeln, Tag für Tag. Man kann sie zu jeder Art von Fleisch als Zugabe essen, gerade wie dies gegenwärtig mit den Kartoffeln geschieht. Das specifisch orientalische Fleischgericht zum Reis ist Curry, ein Ragout von allen vorhandenen Resten Fleisch und Sauce, welches, mit etwas Curry-Paste oder -Pulver, einer feingeschnittenen Zwiebel und einer geriebenen, rohen Kartoffel angemacht, äußerst wohlschmeckend ist.

In unseren Seestädten ist dieses Gericht schon vielfach ein beliebter Table d’hôte-Gang geworden.

Wie man den zuerst mit Wasser angesetzten Reis nachher trocken weiter kocht, braucht Hausfrauen natürlich nicht erläutert zu werden. Es giebt dafür im Handel schon sogenannte Reiskocher, blaue Töpfe, in denen ein feines Sieb angebracht ist, auf welchem der Reis liegt, während darunter das Wasser sich in Dampf auflöst. Nach einer Stunde etwa wird das Sieb herausgehoben, das Wasser abgegossen und der Reis noch eine Weile zum Trocknen auf dem Herde gelassen.

Im Gegensatz zu den bei uns üblichen Reisgerichten wird der so zubereitete Reis anfänglich vielleicht dem verwöhnten Gaumen nüchtern und geschmacklos vorkommen, gerade wie Brod sich zu Kuchen verhält, oder Kartoffeln zu feineren Gemüsen. Aber bald wird man seine gesunde Wirkung spüren und ihn sich gern gefallen lassen. Wir haben dann ein stets und zu Allem passendes Gericht mehr. Die sparsam wirthschaftende Hausfrau weiß, was das

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Zusammensetzuug
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_095.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)