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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Deinen Arm anzunehmen, Edwin! Und dann geht immerhin voraus! Ihr habt leichtere Füße. Sagt nur, wir kämen sofort nach! Wir haben nur über ein paar Sachen mit einander zu sprechen. Aber gieb Acht, daß Du über Deine Gravität nicht stolperst, Fräulein – Emmy!“

Die Gravität schien noch nicht allzu tief Wurzel geschlagen zu haben; wenigstens behinderte sie in keiner Weise die kleinen davonhüpfenden Füße. Das junge Paar war rasch voraus, während die Geschwister wie in stummem Einverständnisse ihre Schritte verlangsamten.

„Du hast mir etwas zu sagen, Franz?“ begann Hilda. Traulich setzte sie hinzu: „Auch ich Dir –“

„Nun ja,“ kam er sichtlich zögernd mit seinem Ansinnen heraus. „Eine Bitte! Weiß der Himmel, es ist mir unangenehm genug, Dir so etwas zuzumuthen, aber ich kann diese ewigen Seufzer und Klagen, diese Anspielungen und Winke mit dem Zaunpfahl nicht mehr anhören. Dir selbst kann es ja nicht entgangen sein, daß Albertinens Mutter gern Deine Zimmer beziehen möchte. Sie hat kein Recht darauf – nein, wahrhaftig keins, so lange Du unter meinem Dache bist. Du bewohnst sie, seit die Mutter starb, und sollst darin bleiben, bis es Dir selbst anders gefällt. Aber ich meine nur, freiwillig, aus Gefälligkeit – für einen Gast kann man ja auch etwas thun.“

„Für einen Gast?“ entgegnete Hilda, nachdem sie eine Weile geschwiegen. „Und für wie lange ist sie unser Gast?“

„Ja, das kann ich sie doch nicht fragen, wie Du begreifen wirst.“

„Und wenn der Gast gar nicht mehr fortginge, sondern für immer bliebe?“

„Das wäre!“ rief er mit dem Ausdrucke komischen Schrecks.

„Nimm es einmal an!“ sagte sie mit ernster Festigkeit.

„Teufel! Das will ich lieber nicht annehmen. Allerdings, gehen heißen kann ich sie nicht – das ist unmöglich. Siehst Du das ein? Na, darüber braucht man ja gar nicht zu reden. Sie ist Albertinens Mutter, und Albertine – was braucht’s da viel? Du weißt ja, wie die Verhältnisse stehen. Es wäre seltsam genug, wollt’ ich sie darin einschränken, wen sie als Gast hier haben will, wen nicht. Haben wir aber einmal – Herrgott, jetzt hätt’ ich bald ‚das Uebel‘ gesagt! – na, wie es auch ist, man muß sich damit einrichten. Gar so schlimm ist es ja auch nicht. Und es bleibt wahr, daß ihr das Treppensteigen Mühe macht. Ich habe ihr schon mein eigenes Arbeitszimmer angetragen, aber das wollte sie nicht; sie sagte, ich müsse zu ebener Erde wohnen, wenn ich mit all den Leuten zu verkehren habe, und das ist wieder wahr. Ich kann sie doch nicht in dem Salon oder im Speisezimmer unterbringen; das Natürlichste ist doch, daß Du ihr Dein Zimmer einräumst. Ihr Sinn steht einmal darnach. Gott weiß, wie schwer mir’s fällt, das von Dir zu verlangen. Es ist ja nur, daß wir Ruhe haben. Na, wie ist’s, Schwester? Wir haben uns ja immer verstanden. Schlag’ ein! Du nimmst mir’s nicht übel – nicht wahr? Am Ende ist’s ja doch nur für ein Weilchen.“

„Ich sehe wohl, es wird für mich wohl bald ebenso wenig Platz hier sein, als – für Wilhelm.“

„Was soll das wieder?“ rief er unmuthig. „Welch ein Vergleich! Das sieht Euch Frauenzimmern ähnlich: Alles in einen Topf zu werfen. Ich bitte Dich um eine kleine Gefälligkeit – wenn Du sie mir nicht erzeigen willst, kannst Du’s auch bleiben lassen, zwingen wird Dich Niemand dazu – das ist doch wohl nicht dasselbe Ding, als wenn sich Einer selber aus dem Hause hinaussperrt. Wir Zwei sind Schwester und Bruder – mit Dem dort drüben hab’ ich nichts gemein.“

„Ihr seid doch auch Bruder und Bruder.“

„Ach, was Bruder und Bruder! Beschimpfe mir das Wort nicht! Sonst dank’ ich all mein Lebtag für den Titel.“

„Und doch – mach’ Dich nicht schlimmer, als Du bist! – doch hast Du als Bruder an ihm gehandelt, als Du für ihn einstandest.“

„Nein, tausendmal nein sag’ ich! Für den Namen Reinach bin ich eingestanden, nicht für Den, der ihn besudelt hat. Keiner sollte sagen können, daß er an einem Reinach zu Schaden gekommen, und Keiner sollte auf das Zuchthaus deuten können und sagen: Seht, dort sitzt ein Reinach! Darum habe ich mit Dir die falschen Wechsel eingelöst; darum habe ich mitgeholfen, daß der Mensch sich der Strafverfolgung entzog. Wär’s nach meinem Gefühl gegangen, ich hätte ihm nur eine Pistole geschickt. Ja, bei Gott, das hätt’ ich gethan, wenn ich nicht gewußt hätte, daß er sie doch – nur wieder an den Trödler würde verkauft haben. Bah, der setzt das Leben nicht für die Ehre ein – für ein Weib verwirft er beides.“

„Und was hat es eigentlich für einen Sinn, der verlorenen Ehre auch das Leben nachzusenden, wie Du es verlangst? Ist es nicht mehr werth, ein neues Leben zu beginnen?“

„Bleib’ mir mit solchen Phrasen vom Leibe! Die gehören in die Kirche.“

„Giebt es denn keine Beispiele, wo Einer, der verloren schien, sich eine neue Existenz gründete und in ihr Achtung, Ehre, sogar Ruhm fand?“

„Dann war’s ein anderer Mann, ein Mann mit Mark in den Knochen. Nicht der! Wie oft ist das Lied vom neuen Leben abgeleiert worden! Als er seine Officierscharge niederlegte, da hieß es: ,Ich habe das Thörichte meines Treibens einsehen gelernt. Die Ehe wird aus mir einen bessern Menschen machen‘. Wer ihm abrieth, war sein Feind; nicht nur seine Stellung, auch seine Familie hat er aufgegeben um dieses Weib. Dann kam das Elend – wie oft war’s, daß er ein Anderer zu werden versprach! Und Alles wurde doch von seinem liederlichen Treiben verschlungen, Alles, was ihm ausgezahlt wurde, Alles, was wir seinen Gläubigern ersetzten, Alles, was er erhielt, um drüben in Amerika ein solides Dasein anzufangen, Alles endlich, was er später durch Lug von Dir zu erschleichen wußte. Immer wieder das alte, das unverändert alte, erbärmliche, ehrlose Leben!“

„O Franz, ich verstehe vollkommen Deinen Unwillen; eine Natur, wie Deine, deren tiefster Kern die Redlichkeit ist, muß sich über Wilhelm’s Thun empört fühlen, aber alle Menschen sind sich ja nicht gleich an Kraft des Leibes, und ebenso verschieden sind sie in der Stärke des Charakters. Vielleicht ist es genau so ungerecht, Einem vorzuwerfen, daß er einer Versuchung nicht Widerstand zu leisten, als daß er ein Centnergewicht nicht mit freier Hand zu heben vermag.“

„Nun, wir kämen weit mit solchen Anschauungen. Recht und Unrecht gäb’ es nicht mehr; Lohn und Strafe hörten auf.“

„Nicht doch, Alles bliebe, nur der Schwächling, sei es an Körper oder Seele, würde ein milderes Urtheil finden vor der Menschlichkeit, Mitleid für sein Gebrechen und die auf ihn selbst fallenden unabwendbaren Folgen desselben.“

„Und wie stünde es dann um die Folgen, welche auf Andere fallen? Was bliebe den von fremden Verschuldungen unschuldig Mitbetroffenen, wenn das Mitleid schon für solch ein Volk von Taugenichtsen verbraucht würde? Ich frage!“

„Die Ehre, die Achtung eben. Was geht darüber?“

„Nun ja, freilich – das fehlte noch –“

Die Worte des Gutsherrn verloren sich in ein unverständliches Brummen, aber aus ihnen heraus klang doch etwas wie Besänftigung, wie eine weicher werdende Stimmung. Hilda hatte das richtige Mittel gefunden, seinen Mißmuth zu dämpfen; zwar hatte sie ihn durchaus noch nicht zu ihrer Meinung bekehrt, aber die Gründe zu weiterer Widerlegung fand er nicht, und das kluge Mädchen nahm den gebotenen Vortheil wahr. Sie umschlang in schwesterlicher Zärtlichkeit seinen Arm.

„Siehst Du, Franz,“ sagte sie innig, „es ist doch ein Unterschied, und die, welchen jene höchsten Güter nicht geraubt werden können, bleiben immer hoch über den armen Gesunkenen, denen sie verloren gegangen. Sie dürfen mit stolz erhobener Stirn sich ihres Glückes freuen, das sie nachsichtiger stimmen sollte, gütiger und versöhnlicher. Denn das Glück ist ein Geschenk des Himmels, das wir nicht egoistisch für uns behalten, sondern von dem wir mittheilen sollen.“

„Sage mir nur, wo hinaus Du eigentlich willst? Umwege, weißt Du, liebe ich nicht.“

„Ich möchte Deine Verzeihung, Deinen brüderlichen Beistand.“

„Für den? Niemals!“

„Aber wenn er ein Anderer geworden wäre? Die Jahre gehen doch nicht spurlos am Menschen vorüber.“

„An meinem Sinne, ja. Und wenn eine Ewigkeit verginge – niemals, sage ich Dir! Doch wozu ereifern wir uns? Reden wir über andere Dinge!“

So leicht aber gab Hilda ihr Feld nicht verloren.

„Du hast immer noch den leichtsinnigen, eleganten, hochmüthigen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_106.jpg&oldid=- (Version vom 16.5.2023)