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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

erweitern und namentlich Maßregeln zu treffen, mittelst welcher bei plötzlichen Unglücksfällen den Kranken und Verwundeten die erste Hülfe in höherem Maße gewährt werden könne, als dies bisher der Fall gewesen. Dies sollte durch die Gründung einer mit dem Johanniterorden in Verbindung stehenden Ambulance-Association erreicht werden, und so wurden bereits im Februar 1878 zu diesem Zwecke von den Ordensmitgliedern 2230 Pfund Sterling gezeichnet; nachdem sich die Gesellschaft alsdann constituirt hatte, ging man unter der Leitung des Majors Duncan und des Capitain John Furley sofort an die Gründung von Verbandlehrschulen. Das englische Volk nahm diese Neuerung mit großem Enthusiasmus auf – schon nach sechs Monaten hatte sich die Bewegung über ganz Großbritannien ausgebreitet.

Besonders günstig gestalteten sich die Verhältnisse in Woolwich, wo eine große Zahl von Bürgern und Militärpersonen, sowie intelligenten Handwerkern des berühmten Arsenals sich der Ambulancegesellschaft angeschlossen hatte. Hier wurde daher die erste Centralschule für den Unterricht im Anlegen des ersten Verbandes und in der ersten Pflege der Verwundeten errichtet, und um jeden Schein religiöser oder politischer Tendenzmacherei zu vermeiden, wählte man in den Localausschuß Geistliche aller Confessionen und den jeweiligen Parlamentsabgeordneten des betreffenden Bezirkes zum zweiten Vorsitzenden, ein Grundsatz, der auch bei der Begründung anderer Centralhülfsstationen mit dem besten Erfolge durchgeführt wurde. Höhere Militärärzte erklärten sich in Woolwich bereit, den Unterricht zu ertheilen, und nachdem alsdann die angemeldeten Schüler in je drei Classen für Frauen und Männer eingetheilt worden waren, begannen die Curse, von denen jeder sechs Wochen dauerte und in einer allwöchentlich abgehaltenen zweistündigen Vorlesung bestand.

In den fünf ersten Vorlesungen wurden die Zuhörer zunächst mit dem Bau des menschlichen Körpers, mit dem Blutumlaufe, der Athmung etc. vertraut gemacht; ferner wurden ihnen die Unterschiede zwischen den Blutadern und Pulsadern (Venen und Arterien) und den verschiedenen Blutungen erläutert, wobei die gebräuchlichen Mittel zur Stillung derselben angegeben wurden; hierauf wurden den Schülern auch die Knochenbrüche und Verrenkungen nebst den verschiedenen Arten ihrer Behandlung, die Bewußtlosigkeit, die Ohnmacht und ihre Ursachen, die Trunkenheit und Vergiftung, sowie das Rettungsverfahren bei Ertrunkenen und Erstickten geschildert. Bis dahin war der Unterricht für die Frauen- und Männerclasse durchaus derselbe. In der letzten Vorlesung aber erhielten die Frauen einen besondern Unterricht in der Krankenernährung, in der Erwärmung und Lüftung der Krankenzimmer und in der Anwendung des Thermometers; sie empfingen Anleitungen über eine zweckentsprechende Bewachung der Kranken, über vernunftgemäßes Verbinden der Wunden, über richtiges Auflegen von Umschlägen und vorschriftsmäßiges Wechseln der Betttücher, sowie schließlich über das kunstgerechte Aufheben und den Transport hülfloser Patienten.

Der besondere Unterricht für die Männer bestand dagegen in Schilderung des Aufhebens und Fortschaffens Kranker oder Verletzter auf Tragbahren, mittelst Eisenbahnwagen oder auf Landfuhrwerken.

Alle diese Vorträge waren mit praktischen Uebungen verbunden; hier lernten die Schüler vor Allem größere Blutungen momentan zu stillen, um die Verblutung des Kranken, bevor der herbeigerufene Arzt erschienen ist, zu verhüten; sie erfuhren, wie man mit dem dreieckigen Tuche zweiunddreißig verschiedene Verbände in einfacher Weise anzulegen vermag, wie man dieses Tuch im Nothfalle durch ein Taschentuch ersetzen kann, wie man bei gebrochenen Knochen Seitengewehre, Büchsen, Regenschirme, Spazierstöcke, Baumzweige, Zeitungen u. dergl. m. zu provisorischen Schienenverbänden, welche das Glied in der normalen Lage erhalten sollen, benutzen darf; hier übten sie sich in der Hervorrufung der künstlichen Athmung, durch welche Erstickte und Ertrunkene in’s Leben zurückgebracht werden; hier lernten sie Tragbahren benutzen und im Nothfalle aus Stangen und Brettern solche herstellen; hier endlich wurden sie mit dem Transport Verletzter auf weite Entfernungen hin vertraut gemacht.[1]

Um aber dem Unterricht einen wirklichen Erfolg zu sichern, wird in den englischen Schulen am Schluß des Lehrcurses eine scharfe theoretische und praktische Prüfung mit den Schülern abgehalten, und die Bestehung derselben befähigt den mit einem Zeugniß entlassenen „Helfer in erster Noth“ zur activen Mitgliedschaft des Ambulance-Departements des Johanniterordens.

Von Woolwich aus verbreitete sich die Bewegung in kurzer Zeit über ganz England, und in London allein wurden sechsunddreißig Schulen für die Verwundetenpflege in’s Leben gerufen. Hier richteten die Behörden ihr Augenmerk besonders darauf, daß die Polizeimannschaften nach dieser Richtung hin ausgebildet würden, und dies sollte man wahrlich auch bei uns beherzigen. Es ist die Pflicht des Schutzmannes, bei Unglücksfällen an Ort und Stelle zu erscheinen; was nützt es ihm aber, wenn er nicht versteht, dem Verunglückten die erste Hülfe angedeihen zu lassen, wenn er den Halberstickten nicht in’s Leben zurückzurufen weiß, den Verwundeten verbluten läßt? Ferner betheiligten sich an den Lehrcursen Eisenbahn- und Postbeamte, sowie Fabrikarbeiter, und in den Grubendistricten Englands wurde die Begründung dieser Schulen von der Bevölkerung mit wahrem Jubel angenommen.

Es vergeht schon heute fast kein Tag, an dem nicht in England irgend ein Nothhelfer in zweckmäßiger Weise einem Verunglückten beigesprungen wäre, und wenn England in einen Krieg verwickelt und der Johanniterorden auf den Schlachtfeldern sein hohes Friedenswerk auszuüben berufen würde, dann hätte es sicher an tüchtigen Freiwilligen, die den leidenden Kriegern Hülfe zu bringen im Stande sind, keinen Mangel.

Durch diese schlagenden Erfolge des Auslandes ermuthigt, hat der Verfasser vorliegenden Artikels es unternommen, auch das deutsche Volk mit den Grundsätzen der ersten Hülfe in der Noth vertraut zu machen, und zu diesem Zwecke im Februar des laufenden Jahres die erste Samariterschule in Kiel in’s Leben gerufen. Die gegen 800 Personen zählende Zuhörerschaft folgte den Vorträgen mit großer Aufmerksamkeit und nahm den thätigsten Antheil an den praktischen Uebungen, welche nach jeder Vorlesung von zwölf jüngeren Aerzten in den verschiedenen Vorlesungsräumen der Universität geleitet wurden.

Auch die englische Ambulance-Gesellschaft zeigte ein warmes Interesse für unsere Bestrebungen, und wir hatten die Ehre, in der Kieler Samariterschule Herrn John Furley als Gast zu begrüßen, dem vor Allen das Verdienst gebührt, die englischen Verbandlehrschulen mit geschaffen und in wahrhaft großartiger Weise organisirt zu haben.

Schließlich wurde am 5. März in Kiel ein Verein für die Förderung der Samaritersache von angesehenen Männern der Stadt gegründet und zunächst ein Ausschuß gewählt, welcher die Statuten des Vereins entwerfen und einen Aufruf zum Beitritt an das deutsche Volk veröffentlichen wird.[2]

Hoffen wir, daß diesen ersten deutschen Samaritern die nöthige Unterstützung nicht fehlen wird, daß Private und Behörden die Agitation in weitere Kreise tragen werden! Ein hohes Friedenswerk, ein Werk der Nächstenliebe ist es, um dessen Bethätigung es sich handelt; ihm dürfen sich die Herzen unserer Landsleute nicht verschließen.

Kiel, Ende März.

Esmarch.
  1. Die „Gartenlaube“ wird voraussichtlich schon in den nächsten Nummern dies Alles ihren Lesern an einigen Beispielen darzuthun versuchen.
  2. Die Mitgliedschaft dieses Vereins kann schon jetzt erworben werden, und zwar durch die Zahlung eines Jahresbeitrages von mindestens einer Mark. Wer aber auf einmal zwanzig Mark einzahlt, der erlangt hierdurch lebenslängliche Mitgliedschaft. Die Anmeldung kann direct bei dem Schatzmeister (Herrn Consul von Bremen in Kiel) erfolgen, worauf nach Entrichtung des Beitrages die Satzungen des Vereins dem Einsender zugestellt werden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_238.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2023)