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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Osten Londons hat es der Pfarrer von St. Judas, Herr Barrett, schon vor einigen Jahren mit Glück versucht, Kinder von dort auf das Land zu schicken. Anfangs zahlte er 5 Mark für jedes Kind in der Woche, später aber erklärte sich eine Anzahl Bauern bereit, die Kinder unentgeltlich aufzunehmen. So konnte er im Jahre 1881 bereits 500 Kinder versorgen und dazu geistliche Nachbarn, die in gleicher Weise wirkten, mit Geld, das ihm zugeflossen war, unterstützen. Die Sache ist dort noch im Werden und hat allem Anscheine nach eine bedeutende Zukunft.

Ebenso ist in Paris das Interesse für die Angelegenheit lebendig geworden. Brieflichen Mittheilungen zufolge, die ich Herrn Pfarrer Bion verdanke, haben dort, angeregt durch den Züricher Vorgang, mehrere Pfarrer im vorigen Jahre eine Anzahl erholungsbedürftiger Kinder auf dem Lande versorgt.

In etwas anderer Weise wird für einen gesunden Ferienaufenthalt der Kinder in Kopenhagen gesorgt. Dort giebt es keine geschlossenen Colonien unter der Leitung eines Lehrers, sondern die Kinder werden einzeln in solchen Familien auf dem Lande untergebracht, welche sich zu ihrer unentgeltlichen Aufnahme freiwillig erbieten. Ueber diese Einrichtung schreibt Professor Holbech, Schuldirector in Kopenhagen:

„Die Einrichtung der Ferienversorgung der Kinder in den Volksschulen geht ungefähr 30 Jahre in der Zeit zurück. Ein Inspector einer Militärschule (die wesentlich aus Unterofficierskindern bestand), der ein wahrer Kinderfreund war, hat das Verdienst, die ganze Sache in Anregung gebracht zu haben. Er vereinigte sich mit den damaligen Vorstehern der öffentlichen Communalschulen; ein Aufruf erging an alle Landbewohner, Kindern aus diesen Schulen in den Sommerferien einen Aufenthalt in ihren Familien zu gönnen, und zugleich suchte man diesen Kindern freie Reise hin und zurück zu verschaffen. Beides gelang über alle Erwartungen. Man konnte gleich anfangs 1000 Kinder in den Sommerferien auf dem Lande bei Gutsbesitzern, Predigern, Pächtern und Bauern versorgen.“

In der langen Reihe von Jahren ist dieses Princip beibehalten worden, und in den Sommerferien des verflossenen Jahres hat man in dieser Weise fast 7000 Kindern die Wohlthat eines heilkräftigen Ferienaufenthaltes auf dem Lande erwiesen.

Wieder in anderer Weise gestaltet sich die Fürsorge für kränkliche Kinder drüben über dem Ocean, in New-York. Mir ist eine deutsche Zeitung von dort zugegangen, laut welcher die New-Yorker Kinderschutzgesellschaft die Kinder in den heißen Sommertagen vor der gefährlichen Ruhr[WS 1] dadurch zu schützen sucht, daß sie dieselben des Morgens auf einem mit Lebensmitteln reichlich versehenen Dampfer versammelt und sie auf diesem mit ihren Pflegern hinaus auf die offene See fährt. Hier athmen die Kleinen den Tag über die freie, kühle Seeluft, um Abends zu ihren Eltern zurückgebracht zu werden. So fährt während der heißen Jahreszeit täglich ein Dampfer mit 1000 bis 1500 kränklichen New-Yorker Kindern in See.

Nicht nur der Erholung schwächlicher, schlecht genährter, sondern auch der Heilung wirklich kranker, namentlich scrophulöser Kinder dienen die Seehospize, über welche die „Gartenlaube“ erst vor Kurzem (Nr. 8 dieses Jahrgangs) ausführlich berichtete, und in gleicher Weise wirken die in Soolbädern eingerichteten Kinderheilstätten.

Die beiden zuletzt genannten Unternehmungen erstreben die Heilung von Kindern, welche an ausgesprochenen Krankheiten leiden, während die Feriencolonien solche Kinder, die unter ungünstigen Lebensbedingungen, z. B. durch Mangel an Licht und Luft in engen Wohnungen oder durch schlechte Ernährung in ihrer Entwickelung zurückgehalten worden sind, erfrischen und kräftigen und für das Leben brauchbar machen sollen. Beide aber, Kinderheilstätten wie Feriencolonien, verdanken ihren Ursprung der Ueberzeugung, daß die dem kindlichen Organismus rechtzeitig geleistete Hülfe zehnfache Früchte trägt; denn das richtige Mittel, zu rechter Zeit angewendet, erhält nicht nur manches Leben, sondern macht auch spätere dauernde Hülfe entbehrlich.

Ueberschauen wir am Schlusse unserer Betrachtung den Stand des Feriencoloniewesens, so können wir uns der Erkenntniß nicht verschließen, daß die dem Unternehmen zu Grunde liegende Idee sich als lebens- und entwickelungsfähig erwiesen hat. Es ist keine philanthropische Spielerei, die man mit den Feriencolonien treibt, sondern eine ernste Arbeit an der Milderung und Heilung socialer Schäden. Es ist ein Stück Kampf gegen das Anwachsen des Proletariats, und wer Erfahrungen in der Armenpflege hat, der wird wissen, daß es unendlich schwer ist, einen zum Prolelariat Herabgesunkenen daraus zu erheben; darum ist es auch nicht die vornehmste Aufgabe der Armenpflege, bereits Gesunkene wieder zu erheben, sondern vielmehr, noch im Sinken Begriffene rechtzeitig zu halten und zu stützen, damit sie nicht vollends zu Grunde gehen. Nun, die Kinder physisch widerstandsfähig machen, sie körperlich kräftigen und sittlich heben, das heißt wahrlich gegen das Proletariat ankämpfen.

Man wird einem Manne wie Falk, dem ehemaligen preußischen Unterrichtsminister, wohl zutrauen dürfen, daß er ein klares Auge für dergleichen Verhältnisse hat und seine Kräfte nicht ohne weiteres in den Dienst eines seichten Wohlthätigkeits-Dilettantismus stellen wird. In seiner Eröffnungsrede der Berliner Conferenz der Vertreter von Feriencolonien-Comités sagte er aber: „Alljährlich fallen in Berlin Hunderte von Kindern dem Siechthum anheim und entwickeln sich unter der Ungunst der Verhältnisse zu elenden, krüppelhaften, zu jeder ernsten Arbeit untauglichen Individuen, die mit der Zeit nicht nur der Commune zur Last fallen und deren Armen-, Kranken- und Siechenhäuser bevölkern, sondern auch erfahrungsgemäß für Ausbreitung aller größeren Epidemien am wesentlichsten beitragen, weil sie widerstandslos gegen alle krankmachenden Einflüsse sind. Werden solche Kinder zur rechten Zeit – wenn auch nur für wenige Wochen – in zweckentsprechende gesundheitliche Verhältnisse gebracht, so ist ihre dauernde Kräftigung möglich; es kann hierdurch vielem Elend gesteuert, unsere Kranken- und Wohlthätigkeitsanstalten können hierdurch erheblich entlastet werden. In der That bedarf die hohe sociale und sanitäre Bedeutung der Feriencolonien kaum einer Begründung.“

Was wollen dagegen Einwürfe sagen, wie der immer und immer wiederholte: man wolle mit den Feriencolonien nichts, als einer kleinen Anzahl von Kindern aus den unteren Ständen die Annehmlichkeit einer Sommerfrische verschaffen und verwöhne sie dadurch. Es kommt ja hier hauptsächlich darauf an, armen und kränklichen Kindern nach Möglichkeit zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit zu verhelfen. Denen, die trotz alledem behaupten, die Kinder würden in den Feriencolonien verwöhnt, muß gesagt werden, daß sie sich durch den Augenschein vom Gegentheil überzeugen mögen, und wenn sie dies nicht wollen, so müssen sie eben Vertrauen fassen zu den Männern, die sich der Sache annehmen und mit ihren Namen für die gewissenhafte Verwendung der ihnen anvertrauten Spenden einstehen.

Andere Gegner aber verschanzen sich hinter der so oft aufgestellten Behauptung, daß bei aller Aufopferung für das Wohl der armen Kinder doch nichts herauskomme. „Auch wenn Ihr sie nicht verwöhnt,“ sagt man, „so nützt Ihr ihnen doch gar nichts. Ihr bringt sie später in die alten Verhältnisse zurück, und dann geht das alte Elend von Neuem an. Dauernd könnt Ihr sie ja doch nicht in bessere Verhältnisse bringen; darum ist es richtiger, sie gar nicht erst in eine glücklichere Lage zu versetzen.“ Das ist eine wunderbare Anschauung. Was würde gesagt werden, wenn man einem die ganze Woche hindurch an die Schreibstube gefesselten Bureaumenschen am schönen Sommersonntag rathen wollte: „Ergehe Dich nicht draußen im Sonnenschein, erquicke Dich nicht am Vogelsang, an den blühenden Blumen und Bäumen, erlabe Dich nicht an dem murmelnden Bach im Schatten des grünen Waldes! Es nützt Dir ja doch nichts; denn am Montag mußt Du wieder am Schreibpulte hocken.“

Das ist die Logik Derer, die nichts beitragen zu dem wahrhaft segensvollen Unternehmen, als das ewig wiederholte scheele Wort: es nützt ja doch nichts. Ich setze nun allen abfälligen Urtheilen die Behauptung entgegen: der Aufenthalt in der Feriencolonie ist eine Wohlthat von eminentem Werthe schon dadurch, daß sie nimmermehr von einem Unbedürftigen durch heuchlerische Vorwände erschlichen werden kann; der Spruch des scharf beobachtenden Arztes wendet sie nur dem wahrhaft Bedürftigen zu. Aber auch darum ist sie vielen anderen Wohlthaten vorzuziehen, weil sie verhältnißmäßig nur geringe Mittel zu einer überraschend günstigen und mit fast absoluter Sicherheit eintretenden Wirkung erfordert.

Und dann, wenn selbst die Früchte der Feriencolonien bisher nur geringe wären, sollte das Wenige nicht immer noch besser sein als gar nichts? Das Wenige wird ja mit der Zeit mehr werden;

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Ruhr, die: Infektionskrankheit des Darms, siehe Wiktionary
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_286.jpg&oldid=- (Version vom 10.2.2023)