Seite:Die Gartenlaube (1882) 306.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Doch – wenn Sie auch darin Recht hätten, so müßte all dieses Denken an Ihr Recht doch untergehen in dem Gefühl Ihrer Liebe, Ihrer Liebe für das Haus, in welchem Ihre Mutter aufwuchs und ein fröhliches Kind war, für den Boden, der Ihrer Väter Heim war seit Jahrhunderten, für den Oheim, der Sie nicht entbehren kann, und für mich, dem Sie Ihr Wort, Ihre Treue verpfändet haben. Ich gehe, Regine, und kehre zurück, wenn Sie, die Kranke, den Arzt rufen.“

„O mein Gott!“ rief sie erschrocken, empört aus. „Er trotzt auf das ihm verpfändete Wort. Er trotzt noch.“




10.

Regine hatte gegen die Dämmerstunde hin sich einigermaßen gefaßt und gesammelt; sie beschloß, ihren Dienst bei dem alten Herrn wieder aufzunehmen, der sie sicherlich ungeduldig erwartete – sie pflegte, wenn die Lampen entzündet wurden, ihr Vorleseramt anzutreten, und wollte es auch heute thun – es war vielleicht eine Zerstreuung, eine Flucht aus all den schrecklichen Gedanken, welche ihre Stirn glühen, ihre Schläfen hämmern ließen, ihre warmen Hände kalt und feucht machten. Sie wollte noch ein paar Tage lang still wie bisher weiter walten um den kranken Mann und dann die Gelegenheit suchen, unter einem passenden Vorwande von Dortenbach abzureisen und so sich vor einer neuen Begegnung mit Leonhard zu flüchten. Diesen wollte sie nie, nie wieder sehen. Er war verurtheilt für immer.

Sie betrat mit einigem Zagen das Wohnzimmer ihres Onkels. Sicherlich, dachte sie, werde der sensitive und feinfühlige alte Herr den Tact haben, nicht von der Adoptionsidee direct mit ihr zu beginnen, nachdem sie dieselbe nun einmal so schroff abgewiesen; auch werde er sich nicht als ihren Oheim geltend machen, nachdem es ihm durch Leonhard doch nahe genug gelegt sein mußte, daß sie davon nichts hören noch anerkennen wolle – sie hätte in der Erbitterung ihres Herzens dann um so härter und schärfer antworten müssen, je schwerer es ihr geworden wäre, ihre Fassung zu bewahren. Und dem alten Herrn wehe zu thun, davor scheute sie doch auch zurück, als sie jetzt forschend in sein Gesicht blickte – es lag ein so milder Ernst in diesen weichen Zügen, wie milder, lichtspiegelnder Thau auf einer Gegend liegt nach stürmischer schwerer Nacht.

Und in der That, er schien auch gar nicht daran zu denken, ein indiscretes Wort fallen zu lassen.

„Ich habe,“ sagte er ruhig, während Andreas die entzündete Lampe aufstellte und dem Lichtschirme des alten Herrn die rechte Höhe gab – „ich habe da ein Buch bekommen, aus dem Sie mir heute lesen sollen, Fräulein Bertram – es trägt den verheißungsvollen Titel ‚Canossagänge‘.“

„Gänge?“ fragte Regine. „Haben wir denn nicht an einem solchen Gange genug?“

„Leider giebt es ihrer mehrere in der Geschichte, und der Verfasser stellt sie zusammen, um das Grundgesetz des ‚Canossaganges‘ zu finden, die Theorie solcher Niederlagen des überzeugten Wollens und Handelns für das Allgemeine –“

„Und findet er das Gesetz?“

„Es scheint so. Wir werden ja sehen. Er scheint den Satz aufzustellen: Ueberall da, wo mit dem überzeugten Wollen nicht hoher sittlicher Ernst verbunden war, sondern die Ueberzeugung, wenn auch noch so tief und unerschütterlich, nebenbei in den Dienst persönlicher oder parteilicher Interessen und Absichten gestellt wurde, überall da ist das Ende des Endes der Gang nach Canossa.“

Regine nahm, ohne viel darauf zu hören, das Buch zur Hand. Was verschlug ihr diese Theorie; sie – soviel war gewiß – ging nicht nach Canossa – sie widerrief nicht.

Andreas hatte unterdeß die Läden vor den Fenstern zu schließen begonnen – jetzt hielt er hinausblickend inne.

„Was soll denn nun das bedeuten?!“ sagte er.

„Was hast Du, Andreas?“ fragte der alte Herr.

„Die jungen Herren machen sich da ein seltsam Stück Arbeit,“ antwortete Andreas; „da unten sind die Herren Junker mit dem Hausknechte in voller Thätigkeit, die Zugbrücke aufzuziehen – das ist ja schon seit Jahren nicht mehr geschehen und macht ihnen auch Last genug, scheint es.“

„Laß sie, wenn es ihnen Vergnügen macht!“ erwiderte der alte Herr mit einem leisen Seufzer.

Andreas schloß nach einem letzten Blicke auf die arbeitende Gruppe da draußen den Fensterladen.

„Es ist seltsam,“ sagte er dabei, „sie haben auch den Zug an der vorderen großen Brücke heute Nachmittag bearbeitet, sodaß Niemand mehr herein noch hinaus kann, wenn sie auch den aufziehen.“

„Man hat vielleicht von Diebesbanden in der Gegend gehört,“ erwiderte der alte Herr, „geh’ jetzt, Andreas!“

Andreas ging, kopfschüttelnd und verdrossen über seinen alten Herrn, welcher sich nun gar das auch wieder gefallen ließ – solches Den-Herrn-spielen in seinem eigenen Hause – solchen Uebermuth!

Es war nicht gerade Uebermuth, was Sergius und Damian dazu verführt hatte, Haus Dortenbach für die kommende Nacht von der übrigen Welt abzuschneiden, wie eine mit Belagerung bedrohte Burg. Was sie gethan, war die Ausführung einer in einem Familienrathe beschlossenen Maßregel und das Ergebniß von sehr erregten und leidenschaftlichen Debatten, die in dem großen Wohnzimmer des von der Generalin von Sander bewohnten Flügels fast den ganzen Nachmittag hindurch stattgefunden hatten, nachdem der Herr Rentmeister sich bei der Generalin hatte melden lassen, um ihr Mittheilungen der überraschendsten und erschreckendsten Art zu machen. Er war ein kluger, scharf beobachtender Mann, der Herr Rentmeister Benning; für das Beobachten kam ihm wohl ein wenig das leise Schielen zu Statten, mit dem er bald hierhin, bald dahin blickte – nur nie seinem Gegenüber gerade in’s Auge. Von seinen Geschäften erdrückt war er nicht; dafür standen seine breiten Schultern ein, obwohl sie auch noch den schweren, rothen Kopf mit dem starken Unterkinn zu tragen hatten, aber ein wenig übellaunig und menschenfeindlich hatten sie ihn gemacht, die Geschäfte, und eigensinnig dazu; der Förster Klingholt pflegte zu sagen, es wäre dem Herrn Rentmeister ergangen wie einem Hunde, der bei einem zu schwachen Herrn die Dressur verloren.

„Frau Generalin,“ hatte Benning gesagt, nachdem er sich breit und selbstbewußt der hohen Dame gegenüber gesetzt und mehrmals die heiße Stirn getrocknet, „da habe ich Ihnen etwas mitzutheilen, was das Geschäftchen, welches wir in Aussicht genommen, böse stören könnte.“

„Und was wäre das? Meine Cousine Ramsfeld denkt doch nicht etwa an einen anderen Käufer für Dortenbach als Sie, Benning? … Dann müßten Sie selber dazu thun, um …“

„Es handelt sich nicht um Frau von Ramsfeld, sondern um eine ganz andere – Cousine!“

„Cousine? Welche Cousine?“

„Die schöne Krankenpflegerin des Barons, das Fräulein Bertram … das Fräulein, das sich Regine Bertram nennt …“

„Was soll uns das? Was wollen Sie sagen, Benning? Sie könnten ein wenig rascher vorbringen, was Sie sagen wollen.“

Ein boshaftes Lächeln zuckte um seinen Mund. Es war nicht seine Art, da, wo er erst ein wenig auf die Folter spannen konnte, gleich mit den Dingen heraus zu platzen. Darum antwortete er, indem er sich auf’s Neue die Stirn mit dem Tuche wischte, nur:

„Sie hören’s früh genug, Frau Generalin; denn sehr angenehm wird Ihnen die Entdeckung nicht sein. Dieses Fräulein Bertram heißt gar nicht Bertram, sondern Regine Horstmar, und ist das wohlgerathene, legitime Töchterlein des Medicinalraths Horstmar, des Doctors, wissen Sie, der die Schwester unseres Barons, das Fräulein Sabine verführt und endlich auch richtig bekommen hat …“

„Ah – ich bitte Sie – ist das die Wahrheit?“ rief die Generalin erblassend, während ihre kleinen falschen Augen ihn mit strafendem Blicke durchbohrten.

„Wenn’s die Wahrheit nicht wäre, sagte ich’s nicht. Es ist so und nicht anders. Die Krankenpflegerschaft ist nichts als die Maske, unter der sich das liebenswürdige Fräulein an den Herrn Baron herangeschmeichelt hat …“

„Aber das ist ja schrecklich – das ist ja ein unerhörter Betrug des alten Mannes, der sicherlich von einem Fräulein Horstmar so wenig wissen will, wie wir Alle. Was will sie denn hier? Erbschleichen? Gegen uns intriguiren?“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_306.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)