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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

nüi man nich teät!“ („wenn er nun [der Verstorbene] nur nicht zehrt!“), soll heißen: Mitglieder seiner Familie mit in’s Grab zieht, was sehr leicht geschehen kann, wenn man ihm kein Geldstück in den Mund gegeben oder die Tücher nicht weit genug von seinem Munde entfernt hat, sodaß er jetzt noch mit den Lippen an sie zu rühren vermag.

So lebt denn der Hansjochenwinkler in seiner Abgeschlossenheit ein Leben voller zum Theil eigenthümlicher Gebräuche. Ihn kümmert nicht der politische Parteihader, so sehr ihn auch der „Herr Paster“ für conservative Wahlen zu begeistern sucht; ihn interessiren nicht die großartigsten Erfindungen der Jetztzeit, bis diese so riesige Fortschritte gemacht haben werden, daß sie ihn über Nacht aus seinem idyllischen Dasein aufstören.

Wilhelm Meyer-Markau.


Charles Darwin.

Eine Charakterskizze von Carus Sterne.

Am Nachmittage des 19. April hat ein Fürst im Reiche des Geistes, wie die Welt deren nicht allzu viele gesehen hat, sein Scepter niedergelegt, ohne damit aufzuhören, die Geister zu beherrschen. Selbst die Vielen, welche niemals eine Zeile von ihm gelesen, noch eine klare Einsicht in die Tragweite seiner Gedanken genommen haben, fühlen instinctiv aus der Art, wie man über ihn schreibt und spricht, die Größe des Verlustes heraus, der natürlich in den wissenschaftlichen Kreisen aller Länder am tiefsten empfunden wird. Demselben allgemeinen Gefühle ist auch England gefolgt, indem es allen bigotten Einwendungen, die sich etwa hätten regen können, zum Trotze die sterblichen Ueberreste Darwin’s dorthin zur letzten Ruhe gebettet hat, wo sie hingehören, an die Seite Herschel’s und Newton’s, in die Westminster-Abtei.

Fragt man, was diesen Mann, der sein Leben lang ohne Aemter und öffentliche Thätigkeit geblieben ist, die ihm einen äußeren Glanz und seiner Thätigkeit einen schimmernden Hintergrund hätten geben können, der, anstatt die wissenschaftlichen Versammlungen aller Länder zu besuchen und dort durch wohlausgearbeitete Reden Beifall zu erringen, so unverbrüchlich an seiner freiwilligen Verbannung nach einem kleinen Dorfe der Grafschaft Kent festgehalten hat, daß man ihn darnach den „Einsiedler von Down“ nannte, der auch keine Erfindungen gemacht hat, welche das materielle Wohl der Menschen unmittelbar verbessern könnten, was diesen Mann dennoch in den Augen Derer, die ein Urtheil in solchen Sachen haben, so hoch erhoben hat, so lautet die Antwort: Er hat den Menschen eine neue Weltanschauung gegeben, welche sie von der drückenden Sclaverei der Dogmen nicht nur des Buchstabenglaubens, sondern auch von den noch weit schlimmeren einer verknöcherten Wissenschaft befreit hat. Einen Befreier nicht einzelner Völker, sondern der ganzen Menschheit, nicht aus den Banden des Leibes, sondern aus der Knechtschaft des Geistes haben wir in ihm zu betrauern und zu ehren.

Seinen einfachen Lebensgang haben wir bei Gelegenheit seiner siebenzigsten Geburtstagsfeier den Lesern der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1879, Nr. 7) geschildert und wollen deshalb heute nur von der Bedeutung seiner geistigen Thaten und von den seltenen Charakterfähigkeiten sprechen, die ihn in den Stand setzten, diese Thaten zu vollbringen; denn nicht allein durch Scharfsinn hat er die ihm anfangs stark widerstrebenden Geister überwältigt und zu sich herübergezogen, sondern fast noch mehr durch das Gewicht seiner überwältigenden Persönlichkeit, durch seine nie ruhende Arbeitslust, durch seine Vorsicht im Schließen bei aller Kühnheit und Unerschrockenheit im Folgern, durch seine Milde und Herzensgüte im Urtheilen und Handeln, durch seine seltene Einfachheit und Bescheidenheit im Umgange und Verkehr, und dies hervortreten zu lassen, wird der eigentliche Zweck dieser Zeilen sein.

Zuvor müssen wir jedoch einen flüchtigen Blick auf die Weltanschauung vor dem Auftreten Darwin’s werfen. Seit dem Aufdämmern der Philosophie in Indien und Griechenland hatte der menschliche Geist darnach gerungen, eine Weltanschauung zu gewinnen, die der Größe der Natur, die vor Allem seiner selbst würdig wäre und seine höchsten Empfindungen von jenen Vermenschlichungen befreite, die ein naiver Sinn auf der Kindheitsstufe stehender Völker sich ausgesonnen hatte. Wie eine Schachtel mit lebendigem Spielzeug, starr für immer, unverbesserlich, keiner Entwickelung zum Vollkommneren fähig, sollte die Welt mit ihren Bewohnern, ein für alle Mal, fertig hingestellt worden sein.

Wir brauchen nicht des Nähern an die Spitzfindigkeiten zu erinnern, die erfunden werden mußten, um den Ursprung des Bösen und des Uebels in dieser „besten Welt“ zu erklären und ihre Mängel und Risse zu verkleistern. Fortgeschrittenen, klareren und feiner organisirten Geistern hat diese trostlose, „von außen gestoßene“ Welt niemals Befriedigung geboten, aber ihr Sehnen nach einer bessern Welt, ihr Ruf nach „mehr Licht“ war unstillbar und ohne Antwort geblieben.

Je mehr sich nun die Naturforschung in den letzten Jahrhunderten erhob, je weiter die Kenntniß des Weltgebäudes, wie der Erde und ihrer Bewohner fortschritt, um so unheilbarer wurde der Bruch zwischen der Vernunft und den mythologischen Ueberlieferungen des Alterthums. Zumal die Untersuchung des Erdinnern lieferte von Tag zu Tag neue Beweise, daß andere Wesen als die jetzt lebenden die Erde früher bewohnt haben, zum Theil ungeheuerliche Formen von fabelhafter Bildung und Größe, die kein auch nur entferntes Ebenbild auf der Erde zurückgelassen haben. Jahrhunderte lang hatte man sich begnügt, in diesen Knochen und Versteinerungen „Naturspiele“ oder Reste einer gewaltigen Fluth zu sehen, und noch im Beginne unseres Jahrhunderts haben theologisirende Geologen den „Sündfluthgeruch“ der Fossilien mit ihren feinen Nasen wahrnehmen wollen.

Aber der genaueren Untersuchung der Erdschichten reichte bald eine Sündfluth nicht mehr zur Erklärung des Befundes aus; die Annahme einer ganzen Reihe nach einander erfolgter Austilgungen und Neuschöpfungen wurde nöthig erachtet; denn jede genauer untersuchte Schichtenfolge enthielt organische Ueberreste, die weder mit denen der darunter, noch mit denen der darüber liegenden Schichten Uebereinstimmung zeigten, und man erfand demnach die sogenannte Katastrophenlehre, welche fünf bis sechs auf einander gefolgte große Erdrevolutionen annahm, bei denen Alles drunter und drüber gegangen sei, sodaß alle Lebewesen vertilgt und nachher neu erschaffen werden mußten, etwa wie man einen im Kriege verwüsteten botanischen oder zoologischen Garten nach dem Friedensschlusse mit neuen Pflanzen und Thieren bevölkert.

Alle tiefer empfindenden Geister empörten sich gegen die barbarischen Zumuthungen dieser „Möblirungstheorie“, deren Geschöpfe die unwürdige Vorstellung von Modellen erweckten, die jedesmal ihrer Unvollkommenheit wegen vernichtet und in verbesserter Auflage neu erschffen werden mußten, und namentlich konnte Goethe sich niemals mit „dieser vermaledeiten Polterkammer der neuen Schöpfungen“ befreunden. Er selbst hatte schon am Ende des vorigen Jahrhunderts, gleichzeitig mit dem Großvater Darwin’s in England, die Ansicht von einer ununterbrochenen Entwickelung der Welt und der lebenden Bewohner derselben aufgestellt, und der Letztere hatte seiner sehr ausführlichen Begründung dieser „Entwickelungstheorie“ die Bemerkung hinzugefügt, daß sie ihm als die erhabenste und dem religiösen Gefühle am meisten entsprechende Auffassung des Schöpfungswerkes erscheinen wolle. Diese in ihren Grundzügen vollkommen ausgeführte „Descendenztheorie“ Erasmus Darwin’s hat dann Jean Lamarck im Beginn unseres Jahrhunderts mit großer Ausdauer und Kenntniß der lebenden Wesen weiter aufgebaut, ohne damit einen erheblichen Eindruck bei den Naturforschern seiner Zeit hervorzubringen.

Selbst als Charles Lyell im Jahre 1830 seine Grundzüge der Geologie veröffentlicht und überzeugend nachgewiesen hatte, daß die Erdentwickelung immer nach denselben Grundgesetzen vor sich gegangen sei, die wir noch heute in Wirksamkeit sehen, und daß die Verschiedenheit der einzelnen Erdschichten nur dadurch den Anschein plötzlicher und gewaltsamer Umwälzungen annähme, weil sich in ihnen die langsame Wirkung unendlicher Zeiträume in einen einzigen Anblick zusammendränge, wurde die Katastrophenlehre, so weit sie die Lebewesen anging, nicht aufgegeben. Die in diese Periode fallende Parteinahme der sogenannten „naturphilosophischen Schule“ (Hauptvertreter: Oken in Deutschland und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_315.jpg&oldid=- (Version vom 23.4.2023)