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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Etienne Geoffroy de Saint Hilaire in Frankreich) für die Entwickelung der Lebewesen aus einander hatte ihr durch die Unklarheit ihrer Ideen mehr geschadet als genützt. Die größten Zoologen und Botaniker der Zeit, Allen voran Cuvier, Decandolle und der alle Naturwissenschaften in seinem universellen Geiste zusammenfassende Humboldt, gehörten zu ihren entschiedensten Gegnern. Sie bekannten sich trotz aller dagegen laut gewordenen Einwürfe unverbrüchlich zu dem Dogma von der Beständigkeit der Arten, die sich seit ihrer ersten Entstehung nicht verändert hätten und daher auch niemals aus einander hervorgegangen sein könnten.

So war der Stand der Wissenschaft, als Darwin, reich an neugewonnenen Anschauungen, im Herbst 1836 von seiner Reise um die Welt zurückgekehrt war. Mit aufmerksamem Auge hatte er verfolgt, wie die von ihm in Südamerika ausgegrabenen vorweltlichen Thiere nur in demselben Welttheile lebende und ihnen nahestehende Vertreter besaßen, und konnte den Gedanken einer Verkettung zwischen ihnen nicht mehr los werden; er hatte ferner beobachtet, wie jede isolirte Insel ihre besonderen, nur ihr eigenthümlichen Thier- und Pflanzenarten aufwies, und er beschloß, näher zu untersuchen, ob die Lebensformen in Wahrheit so unwandelbar seien, wie man behauptete, oder ob sie eine Neigung, sich nach äußeren Verhältnissen zu wandeln, zeigten, wie Goethe und Lamarck behaupteten, und ob demnach ein Hervorgehen der einen aus der andern Art überhaupt denkbar sei.

Glücklicher Weise erlaubte ihm der Stand seines Vermögens, diesen Plan auf seinem Landgute zu Down in größtem Maßstabe auszuführen und den Rath zu befolgen, welchen ihm Lyell bald nach seiner Rückkehr (December 1836) gegeben: keine Anstellung zu suchen, keine Präsidentschaften und Ehrenämter zu übernehmen, zu denen sich genug passende Leute fänden, „die nichts zu versäumen hätten“. Schon wenige Jahre darauf war seine Vermuthung, daß die organischen Wesen veränderlicher seien, als man zugeben wollte, durch seine eingehenden Studien an Hausthieren und Culturpflanzen zu einer vollkommenen Ueberzeugung geworden, und durch die Beschäftigung mit einem Werke des Nationalökonomen Malthus war er zu der Erkenntniß gelangt, daß in dem nie ruhenden Kampfe um das Dasein eine Ursache gegeben sei, die zufälligen Abänderungen der Lebewesen in eine bestimmte Bahn zu leiten, indem nur solche Abänderungen Aussicht hätten sich zu befestigen, die als zweckmäßig für den besonderen Fall sich bewährten.

Wir können und wollen hier nicht Darwin’s gesammte Theorie aus einander setzen, sondern nur bei dem eigenthümlichen Charakterzug der wissenschaftlichen Vorsicht verweilen, die ihn veranlaßte, diese Ahnungen einer höheren Auffassung des Lebens nicht zu veröffentlichen, sondern sie nur seinen vertrautesten Freunden mitzutheilen, im Uebrigen aber noch anderthalb Jahrzehnte (!) weiter zu beobachten und Thatsachen zu sammeln, um jene Ansichten entweder festgestützt zu sehen oder sie aufzugeben.

Es ist bekannt, wie erst eine äußere Veranlassung, die Entdeckung derselben Grundsätze durch den englischen Naturforscher und Reisenden A. R. Wallace, und das heftige Drängen seiner Freunde Hooker und Lyell ihn veranlassen konnten, eine kleine, diesen Naturforschern seit langen Jahren im Manuscript bekannte Abhandlung am 1. Juli 1858, gleichzeitig mit der Wallace’schen, der Oeffentlichkeit zu übergeben. Er scheint völlig geneigt gewesen zu sein, Wallace die Priorität der weltbewegenden Entdeckung zu überlassen.

In der vor wenigen Monaten erschienenen zweibändigen Biographie Lyell’s findet sich ein launiger Brief desselben an Darwin, aus welchem hervorgeht, welches Drängen dazu gehört haben muß, ihm sein Werk über die „Entstehung der Arten“ abzulocken. Seine Beobachtungen seien noch lange nicht abgeschlossen, noch nicht hinreichend geprüft und geordnet, hatte er eingewandt. „Und wenn Sie hundert Jahre alt werden sollten, würden Sie doch mit Ihren Beobachtungen und Bedenken noch nicht ganz fertig sein, und ich bin von Herzen froh, daß ich Sie im Bunde mit Hooker dazu gebracht habe, das Buch zu veröffentlichen, ohne auf eine Zeit zu warten, die niemals gekommen wäre“, so ungefähr erwidert ihm Lyell auf die, wie es scheint, immer noch ängstliche Zusendung seines Buches und fügt den Rath bei, nur einige der klarsten und lehrreichsten Fälle zur Erläuterung des Textes beizufügen, die ganze Fülle der Beweise und Beobachtungen aber späteren Werken vorzubehalten. So geschah es und so war es offenbar am besten. Man kann nur mit Freuden daran denken, daß es ihm und nicht Wallace vorbehalten gewesen ist, der Vorkämpfer der neuen Weltanschauung zu werden. Wallace ist ohne Zweifel ein höchst kenntnißreicher und scharfsinniger Mann, der, wie Darwin sich einmal ausdrückte, eine natürliche Gabe besitzt, Schwierigkeiten aller Art spielend aufzulösen, aber er vereinigt die größten Gegensätze in seinem Geiste, Gegensätze, die ihn wenig dazu geeignet erscheinen lassen, die Welt zu seinen Ansichten zu bekehren. Er ist Bibelgläubiger und Spiritist, und nimmt den Menschen ausdrücklich von den Gesetzen aus, welchen die übrigen Lebewesen gehorchen; auch besitzt er weder die Ruhe und Ausdauer, noch die strenge Selbstkritik, durch die sich Darwin’s Arbeiten so sehr auszeichnen. Den Letzteren sehen wir jedesmal seinen neuen Aufstellungen gegenüber sich selbst alle jene Einwürfe machen, die irgend dagegen in’s Feld geführt werden können, und darum hat man ihm trotz der Kühnheit vieler seiner Ideen so wenig Mißverständnisse nachweisen können.

Nichtsdestoweniger waren die Angriffe, die man gegen sein im October 1859 erschienenes Werk über die „Entstehung der Arten“ schleuderte, anfangs sehr heftiger Art, und man hätte allen Grund gehabt, selbst für die richtigen Gedanken eines solchen Werkes Befürchtungen zu hegen, wenn die Darstellung weniger kritisch durchdacht und überlegt gewesen wäre. Die Orthodoxen, welche in seinem Auftreten einen Angriff auf die Grundlagen der Gesellschaft fanden, verbündeten sich mit den conservativen Naturforschern, die sich in dem althergebrachten Schlendrian ihrer Gedankencirkel gestört sahen, und es gab einen Guerillakrieg, wie ihn die Welt auf naturwissenschaftlichem Gebiete noch nicht erlebt hatte. Diesen aus allen Winkeln und Weltecken erfolgenden Angriffen gegenüber war Darwin’s Verhalten geradezu bewunderungswürdig. Mochte man seine Ansichten als „Träume eines Nachmittagsschläfchens“ oder als „ein Chaos von Unglaublichkeiten und Dummdreistigkeiten“ oder als „die kurzsichtigste, niedrigstdummste und brutalste Lehre“ (die in Gänsefüßchen gefaßten Musterstücke sind wirkliche Leistungen dreier hervorragender deutscher Gelehrten!) oder wie noch sonst ausschelten, – er antwortete nicht darauf, und als ihm in den letzten beiden Jahren (1880, 1881) von einem jungen Scribenten, der sich dadurch Ruf verschaffen wollte, immer und immer von Neuem in den englischen Zeitungen eine „literarische Fälschung“ vorgeworfen wurde, wollte er anfangs nicht einmal zugeben, daß der Verfasser dieses Artikels, welcher die Grundlosigkeit des abgeschmackten Vorwurfs am klarsten darlegen konnte, dies vollführte. Den wenigen Gegnern, die ihm mit sachlichen Einwendungen entgegengetreten sind, antwortete er mit ungewöhnlicher Liebenswürdigkeit, und Solche, die nur im Allgemeinen gegen ihn polemisirten, wie z. B. Moritz Wagner oder Ernst von Baer, pflegte er in seinen Werken mit desto größerer Auszeichnung zu erwähnen.

So hat er in der That bald die meisten seiner Gegner entwaffnet; die Formen der Polemik wurden immer höflicher, und es blieb schließlich nur noch eine Art Sport der Gegenpartei, ihm einen unschädlichen Gegenpapst zu wählen, der nach einander bald Wallace, A. de Quatrefages, Ernst von Baer, sogar Nathusius und Max Müller geheißen hat, um diese Führer zu größeren Leistungen durch die Huldigungen ihres Heerbannes anzuspornen. Wir dürfen billig bezweifeln, ob es einem andern Forscher und mit andern Mitteln möglich gewesen wäre, eine solche wilde Opposition so schnell zum Schweigen zu bringen, und bis zu einem solchen Grade eine Umwandlung der Gesinnungen hervorzurufen, daß selbst die Blätter der Gegenparteien in London für sein Begräbniß in dem englischen Ruhmesdome eingetreten sind. Dazu muß man bedenken, daß seine Stellung im Anfange eine schwache war; denn die Thatsachen der Erblichkeit, Veränderlichkeit, Anpassung etc. lassen sich dem nicht unmittelbar beweisen, der sie bezweifeln will, und die Vorwesenkunde oder Paläontologie, welche allein greifbare Beweise für den allseitigen Zusammenhang der Lebensformen, für die Entwickelung derselben aus einander liefern kann, war damals noch sehr lückenhaft; die trennenden Zwischenräume zwischen den einzelnen Gruppen waren augenfälliger als die zusammenhängenden Formenreihen.

Die Vögel, um nur eins der auffallendsten Beispiele zu nennen, standen ganz isolirt im System, und kein greifbarer Nachweis war vorhanden, auf welchem Wege sie sich von den andern Wirbelthieren abgezweigt haben könnten, und ebenso vollständig fehlte eine Brücke von den Wirbellosen zu den Wirbelthieren. Als Darwin aussprach, daß früher sicherlich ausgestorbene, aber vielleicht vollkommen verloren gegangene Zwischenformen zwischen den Vögeln und andern Wirbelthieren existirt haben müßten, da konnte man

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_316.jpg&oldid=- (Version vom 2.12.2018)