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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Das Land gehorcht mit merkwürdiger Passivität Persönlichkeiten, deren einzige Macht in ihrer Beredsamkeit und in der Liebe zum irischen Vaterlande wurzelt. Und dennoch giebt es keine offene Empörung, keine Revolution, keinen Versuch, die Fesseln, mit welchen alltäglich in den öffentlichen Versammlungen und Journalen gerasselt wird, abzuschütteln, keine gewaltsame Anstrengung, das vielgeschmähte Joch zu sprengen. Warum? Weil offenbar noch heute die Führer der irischen Agitation die Anschauung des genialen Agitationsvirtuosen Daniel O’Connell[WS 1] theilen, der überzeugt war, daß es für seine Landsleute nur einen einzigen Weg gäbe, zu ihrem Rechte zu gelangen, einen Weg, der zwar langsam, aber um so sicherer zum Ziele führe, und diesen Weg erblickte er in dem Gebrauche jener Mittel, welche die englische Verfassung und die englische Freiheit den bedrückten Irländern gestatten. Ein offener Aufruhr würde die ganze irische Frage auf ein Gebiet versetzen, von dem die Irländer Alles zu befürchten hätten: auf das rein militärische Gebiet. Ohne Zweifel würden die Empörer in diesem Fälle nicht nur durch die englische Armee, sondern auch durch die fanatischen und unerbitlichen Freiwilligen niedergeworfen und als Rebellen sämmtlicher Rechte beraubt werden, welche ihnen die englische Verfassung einräumt.

Allein im Laufe dieses Kampfes, der seit ungefähr siebenzig Jahren im irischen Volke wühlt, wurde weder auf der einen noch auf der andern Seite die streng gesetzliche Grenze eingehalten. Man kann sicher nicht behaupten, daß die „agrarischen Morde“, die Sprengung öffentlicher Gebäude (oder der Versuch zu solchen Verbrechen), die Erschießung junger Damen auf der Landstraße in den Rahmen einer rein verfassungsmäßigen Opposition paßten. Andererseits ist’s nicht möglich, ein Bild grelleren Widerspruchs hinzustellen als die Gegensätzlichkeit, welche zwischen den normalen Schutzbedingungen der englischen Verfassung, dem Habeas Corpus und den gewaltsamen Paragraphen jenes Coercitionsgesetzes (Ausnahmegesetzes) besteht, die einer einzelnen Persönlichkeit, dem Lord-Lieutenant von Irland, gestatten, jedes beliebige, auf irländischem Boden betroffene Individuum, ohne irgend welche Rechenschaft darüber abzulegen, in einen Staatscarcer zu werfen. Diese „Bill“ war allerdings nicht die erste drakonische Maßregel, die vom Parlamente in Westminster bewilligt wurde, um den Widerstand der halsstarrigen Brüder auf der Schwesterinsel zu brechen; denn schon im Jahre 1844 wurde jene Entwaffnungsbill erlassen, welche die Aufbewahrung von „Gewehren, Säbeln, Piken, Speeren“ und „solchen Instrumenten, die als Piken und Speere dienen könnten“, mit Deportation bis zu fünfzehn Jahren ahndete, und vier Jahre später trat die Coercitionsbill in’s Leben, deren Bestimmungen dem schroffsten Belagerungszustande der festländischen Tyrannenstaaten nichts nachgaben; im Jahre 1865 aber, als die fenische Bewegung[WS 2] unter der Führung des heute verschollenen Stephens ausbrach, wurde die Habeas-Corpus-Acte auf der Insel suspendirt und die seit der großen Hungersnoth von 1844 vollständig verstaatliche und gedrillte Polizeimacht mit Gewalten ausgestattet, welche in Alt-England die lebhaftesten Proteste hervorgerufen hätten.

Noch nie waren die Verhältnisse in Irland so ruhig und so geordnet gewesen, wie bei Beginn der Landliga-Agitation[WS 3] im Herbste 1879. Die verschiedenen Ausnahmsmaßregeln waren außer Kraft gesetzt worden; die Volksführer, mäßige und friedliche Männer, meistens alte Herren, gaben sich mit den nach und nach eingeführten Reformen sehr zufrieden, da dieselben den redlichen Zweck verfolgten, die Lage der unglücklichen Farmer zu mildern und die fetten, ungeheuerlichen Privilegien der „etablirten“ protestantischen Kirche einzuschränken. Allein die Mißernte des Jahres 1879 schleuderte den besonnenen irischen Opponenten schwere Prügel in die Räder. Die Noth trieb die unglücklichen Pächter rettungslos der Landliga in die Arme; das allgemeine Elend verschaffte den flammenden Worten der revolutionären Volkstribunen Gehör, und bald darauf begannen die Morde und nächtliche Mondscheinexpeditionen gegen die Schloßherren und ihre noch mehr verhaßten Agenten. Lange genug – man muß ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen – zögerte der liberale Gladstone; lange genug zögerten seine Collegen, von denen einzelne, wie John Bright, ihr ganzes Leben hindurch für die Freiheit gestritten hatten, ehe sie sich entschlossen, die Statue der Verfassung neuerdings mit einem Flor zu umhängen; allein es mußte zu außerordentlichen Maßregeln gegriffen werden, weil eine normale, gesetzmäßige Bestrafung der agrarischen Lordmörder nicht thunlich war; denn selbst in den Fällen, wo die handgreiflichsten Beweise vorhanden waren, wo die Schuld des Angeklagten moralisch erwiesen war, konnte eine Verurtheilung nicht stattfinden, da im ganze Lande keine Zeugen gegen den Angeklagten, keine Geschworenen aufzutreiben waren, die gewagt hätten, eine Verurtheilung auszusprechen. So groß war die Furcht vor der geheimen fenischen Vehme.

Diese skandalöse Straflosigkeit des Verbrechens sollte nun durch das „Suspect“-, das Verdachts-Gesetz beseitigt werden. Dasselbe erlaubt den Behörden, Jedermann hinter Schloß und Riegel zu verwahren, welcher entweder im Verdachte steht, an einem agrarischen Verbrechen Theil genommen zu haben, oder für fähig gehalten werden darf, ein solches zu begehen. Das sind, wie man sieht, sehr dehnbare Bestimmungen, wie diese stets bei Ausnahmegesetzen und willkürlichen Maßregeln der regierenden Gewalt sich geltend zu machen pflegen. So erklärt sich denn auch, daß wir unter den sechshundert Gefangenen, die seit vorigem October kraft des Coercitions-Gesetzes verhaftet wurden, nicht blos Leute fanden, welche im Stande waren, ihren Widersachern hinter der Hecke mit dem Stutzen aufzulauern oder Nachts den mißliebigen Pächtern eigenhändig die Nasen abzuschneiden, sondern auch die blos moralisch Mitschuldigen und an der Spitze dieser Suspects vornehmeren Kalibers die drei Abgeordneten Parnell, O’Kelly, Dillon. Das Gefängniß von Kilmainham war der unfreiwillige Aufenthalt dieser inzwischen der Haft entlassenen Gentlemen.

Die Pferdebahn, welche durch die breiten, sauberen, mit Holz gepflasterten Straßen der irischen Hauptstadt rollt, führt uns binnen zwanzig Minuten vom College Green zum Fuße der kleinen Anhöhe, auf der sich das fragliche Verließ befindet.

College Green ist der Hauptplatz Dublins, hier finden wir das stattliche Universitätsgebäude („Trinity College“) und die monumentale „Bank of Ireland“ mit den symbolischen Statuen am Haupteingange. Beim Anblick dieses zweiten Gebäudes pocht jedem richtigen irischen Patrioten das Herz in der Brust; denn hier war es, wo bis 1800 das irische Parlament machtvoll tagte; hier war es, wo die gewichtige Stimme der patriotischen Redner, deren Statuen den Platz schmücken, ertönte, und hierher hoffen triumphirend dieselben Männer einzuziehen, die zum Theil noch dort oben in Kilmainham schmachten.

Treten wir die Fahrt dorthin an! Wir passiren einige Kirchen, ein Arbeitshaus – und stehen vor der Bastille. Die Hauptfront, ziemlich länglich und unregelmäßig gebaut, präsentirt sich nach Norden zu, während die Rückseite, welche von hohen Ringmauern geschützt wird, der Stadt zugewendet ist, das heißt dem ungeheuer ausgedehnten Phönix-Park mit seinen riesigen Alleen, seinen endlosen Wiesen und Weiden, wo nicht nur das gewöhnliche Vieh seine Nahrung sucht, sondern auch Hirsche und Rehe in der harmlosesten Weise zu Dutzenden, ja zu Hunderten herumstreifen.

In diesem durch die jüngsthin erfolgten Morde an Cavendish und Bourke zu einer so traurigen Berühmtheit gelangten Phönix-Parke finden häufig Massenmeetings statt, und fürwahr, es ist keines der geringsten Effectmittel der irländischen Volksredner, daß diese im Feuer des Redestromes mit der Rechten nach den hinter dem Baumgestrüppe sichtbaren Mauern des Gefängnisses hinüberzeigen und begeistert auf den Patriotismus der Männer hinweisen, die dort hinter Schloß und Riegel schmachten.

Den dominirenden Theil des Gefängnisses von Kilmainham bildet eine ungeheuere Glasdecke, denjenigen nicht unähnlich, die sich über die großen Einfahrtshallen unserer Bahnhöfe ausdehnen. Durch diese Glasdecke erhält der Gefangene seine karge Portion Licht in die öde Zelle und vielleicht ab und zu sogar einen Sonnenstrahl.

Das Gefängnißlocal selbst, welches vor ungefähr dreißig Jahren genau nach dem Vorbilde des pennsylvanischen Correctionssystems gebaut wurde, bietet der Beschreibung nur wenig Anziehendes. Die Eingangsthüren sind von einer geradezu fürchterlichen Massivität und mit centnerschweren Eisenbarren versehen, ja, hinter der inneren Thür (beide sind durch einen kleinen Vorhof getrennt, in dem eine zähnefletschende Dogge Wache hält) giebt es zum Ueberfluß noch ein starkes Gitter. Von besonderer Merkwürdigkeit sind die ungeheuer großen Gefängnißschlüssel, wahre Riesenwerke der Schlosserkunst, welche vortrefflich als Schutz- und Trutzwaffe dienen könnten – wahrlich der Wächter, der sich ihrer erfreut, kann jedes Seiten- und Schußgewehr entbehren. Diese Wächter sind, nebenbei bemerkt, durchweg ausgediente Soldaten, und man erkennt ihren Stand sofort an ihrem strammen Wesen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Daniel O’Connell (1775 – 1847), irischer Politiker
  2. fenische Bewegung: Fenian Brotherhood
  3. Landliga: Irish Land League
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_350.jpg&oldid=- (Version vom 6.3.2023)