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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

„Es hat sich in den letzten zehn Jahren hier nichts geändert,“ brach er endlich das Schweigen, und zwar weniger, um seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen, als um dem Mädchen eine Art Höflichkeit zu erweisen, „Alles liegt und steht wie vor Zeiten; damals gab es zuweilen einen lustigen Abend hier, wenn ich mit einem Fäßchen Bier eingetroffen war und der alte Olaf sein Saitenspiel hervorholte. Die ganze Stube war voller Geister, wenn er sang. Alles bebte und webte: die Balken wie die Herdsteine und die vertrockneten Scheusale und Meerdrachen da oben an der Decke. Die ganze wilde Jagd sang er herbei, zumal wenn das Meer draußen siedete und kochte; dann ging es um’s Haus herum, wie mit zehntausend Gespenstergäulen.“

„Ja, der Olaf war ein großer Sänger,“ gab das Mädchen erzwungen gleichmüthig zu; „manche Nacht kosteten seine Gespensterlieder mich den Schlaf, bevor ich mich daran gewöhnt hatte. Jetzt hat der Nielsen die Sorge übernommen, daß die Langeleike nicht dumpf und faulig wird. Wenn ihm der Kopf darnach steht, spielt und singt er stundenlang. Ihm ist es eine Lust, zu dem Saitenspiel zu krächzen, wie ein Seerabe, und ich hör’s gern wegen des Gedächtnisses. Hab’ in jüngeren Jahren manches liebe Mal den Fuß zum Tanz gehoben, wenn der alte Olaf aufspielte,“ und verstohlen sandte sie einen heißen Blick zu dem vor sich auf den Tisch niederschauenden Gast hinüber.

„Hast wohl lange bei ihm gewohnt?“ forschte Knut gleichmüthig, um die Unterhaltung nicht wieder in’s Stocken gerathen zu lassen.

„An die acht, neun Jahre. Nicht eine Stunde gereut mich, die ich bei ihm verbrachte.“

„Da müßt Ihr gute Freunde gewesen sein?“

„Sehr gute Freunde! Wir hatten keine Geheimnisse vor einander.“

„Sprach er jemals zu Dir von einem gewissen Knut, als von Jemand, mit dem er auf einem freundschaftlichem Fuße gestanden, und der vor einer Reihe von Jahren außer Landes gegangen?“

Das Mädchen neigte sich tiefer über eine Pfanne, in welche sie den Haferteig legte und aus einander preßte. Erst nach längerem Zögern und als ob die Arbeit ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen habe, antwortete sie gedämpft:

„Von Allem sprach er, auch von dem Knut Knutsen.“

„Auch von der Ursache, die jenen von dannen trieb?“

„Auch davon.“

„Ich selber bin der Knut.“

„So?“ fiel es eintönig von des Mädchens Lippen.

„Ich gab ihm vor meiner Abreise einen Schlüssel,“ fuhr Knut in seiner ruhigen Weise fort, „einen Schlüssel und – nun – auch andere Dinge in Verwahrung; verlor er jemals ein Wort darüber?“

„Einen Schlüssel hinterließ er mir,“ antwortete das Mädchen. „Er sagte, der Eigenthümer würde selber kommen, ihn zurück zu fordern.“

„So glaubte er an meine Heimkehr?“

„Keinen Augenblick zweifelte er an ihr; es konnte nicht anders sein – Du mußtest ja kommen.“

In dem Ausdrucke, mit welchem sie sprach, offenbarte sich eine eigenthümliche Zuversicht, die Knut überraschte. Schärfer sah er zu ihr hinüber, doch vergaß er den Eindruck ebenso schnell wieder, als Nielsen herein hinkte; der alte Mann legte die bereits geschlitzten Fische, die er sorgfältig gewaschen und gesäubert hatte, sammt dem Lauch auf den Herd, deckte den Tisch vor Knut, stellte ein kleineres und ein größeres Glas vor den Teller und zündete endlich eine auf hölzernem Fuße befestigte Thranlampe an.

Knut, unablässig des verstorbenen alten Freundes gedenkend, beobachtete mit einer gewissen Theilnahmlosigkeit die beiden schweigsamen Gestalten. Obwohl für ihn beschäftigt, schienen dieselben seine Anwesenheit vergessen zu haben, und sogar als das Mädchen die Speisen für ihn auftrug, einen Krug Wachholderbranntwein und eine Kanne Bier neben die Gläser stellte, änderte sich nichts in ihrem ernsten, beinahe finsteren Wesen.

„Nun laß Dir’s schmecken,“ sagte sie; „daß Du Wachholder und Bier in einem Hause findest, in welchem sonst nur kühles Wasser aus den Felsspalten getrunken wird, mag Dir beweisen, wie zuversichtlich Du erwartet wurdest – seit Jahren.“

Knut sah flüchtig zu ihr auf. Sie hatte sich bereits abgekehrt und schritt wieder nach dem Feuerherd hinüber, von wo aus sie ihren Gast mit unverkennbarer Theilnahme beobachtete. Sein guter Appetit erfreute sie sichtbar. Einmal schien es sogar, als ob ihre großen, ernsten, blauen Augen einen feuchten Glanz erhielten, als ob es sich wie ein Zug der Enttäuschung um ihre vollen rothen Lippen lagerte. Doch schon nach einigen Secunden hatte sie die Haltung einer sorgsamen Aufwärterin zurückgewonnen.

Nielsen kauerte wieder in dem Winkel auf seine Decken und schaute vor sich auf die brennende, kurze Pfeife nieder. Und so vernahm man längere Zeit hindurch nichts als das leise Klirren von Gabel und Messer oder das Geräusch, mit welchem Knut das Bier aus der Kanne in sein Glas füllte. Gelegentlich rühmte er auch die Zubereitung der Speisen und meinte, daß es ihm seit Jahren nicht gemundet habe wie heute und daß er gerade jetzt recht wonnig empfinde, wieder in der Heimath zu sein.

„Ich bin sonst kein Schwelger,“ bemerkte er, indem er endlich den Teller zurückschob und nach seiner Tabakspfeife griff, um sie zu füllen, „ein Trunk Wasser, etwas Brod und eine Kleinigkeit dazu ist Alles, was ich zum Leben bedarf. Nicht zehn Schritte geh’ ich nach einem Leckerbissen. Aber um eine echt norwegisch zubereitete Makrele, einen Haferkuchen und eine Schüssel Moltebeeren, Gerichte, bei denen ich groß geworden, da reise ich meine tausend Meilen.“

Ueber des Mädchens ernstes Antlitz zuckle ein Blitz der Freude. Schweigend nahm sie das citherartige Instrument von dem Wandbrett, und es vor Nielsen auf eine leere Kiste legend, forderte sie ihn auf, zu spielen, um die Erinnerungen des Gastes noch mehr anzuregen. Auch nannte sie ihm einige Tänze, nach deren Tact sie in früheren Jahren sich im Reigen gedreht habe.

Während der alte Mann die Langeleike bedächtig stimmte und hin und wieder prüfend einen Accord anschlug, entfernte das Mädchen Teller und Speisereste. Das Tischtuch blieb, ebenso Krug, Kanne und Gläser. Dann nahm sie Knut gegenüber Platz, und als derselbe sie scharf ansah, rötheten ihre Wangen sich tiefer, und ängstlich schauten ihre Augen ihn an. Doch ebenso schnell trat die auflodernde Gluth zurück; matt senkten sich ihre Lider, und eine melancholische Melodie, welche Nielsen in diesem Augenblicke anstimmte, schien sie zu beruhigen; denn sie hob alsbald mit ihrem tiefen Organ an:

„Wenn Nielsen spielt, hört und sieht er nicht, was um ihn her vorgeht. Wir mögen mit einander reden, als ob wir uns allein hier befänden.“

Knut horchte hoch auf, ohne indessen seine Pfeife zu vernachlässigen. Er erwartete nähere Mittheilungen von dem verstorbenen Olaf, und schon schwebte eine darauf bezügliche Frage ihm auf den Lippen, als das Mädchen hastig fortfuhr:

„Vom siebenzehnten bis zum siebenundzwanzigsten Jahre ist ein langer Schritt. Da geht im Menschen eine große Veränderung vor sich – ich meine in seinem äußeren Ansehen. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn Du mich nicht wieder erkanntest.“

Noch immer blickte Knut forschend und zugleich zweifelnd in das schöne, ruhige Antlitz des Mädchens ihm gegenüber. Erinnerungen tauchten wohl in ihm auf, allein er wußte nicht, wohin sie zu bringen seien.

„Begegnet müssen wir uns im Leben sein,“ sprach er sinnend, „denn bekannt genug erscheinst Du mir, aber –“ er stockte und spähte schärfer in die Augen, in welchen es wie Thränen erglänzte, die aber sogleich wieder durch eine trotzige Bewegung geklärt wurden.

„So will ich Deinem Gedächtniß auf den richtigen Weg helfen,“ nahm das Mädchen schnell das Wort, „vergegenwärtige Dir die Nacht im Lyster-Fjord – Deine letzte war’s in diesem Lande – in welcher Du mit dem Jansen –“

„Engelid, so wahr mir Gott helfe!“ fiel Knut lebhaft ein, und er reichte ihr die Hand über den Tisch, zog sie aber nach einem kräftigen Druck gleichmüthig zurück; „ja, Engelid, jetzt erkenn’ ich Dich so gut, als wären wir gestern erst aus einander gegangen – aber Du hast Dich sehr verändert, und dann Deine Anwesenheit hier, so weit fort vom Lyster-Fjord, auf einer Schäreninsel – da ist’s nicht zum Erstaunen, wenn ich auf Dich sah, wie auf eine Fremde, zumal mit meinen Gedanken an den todten Olaf. Wirklich, Engelid, sehr verändert! Bist sogar noch gewachsen, und häßlicher bist Du am wenigsten geworden. Wer hätte geglaubt, daß ich Dir gerade hier noch einmal begegnen würde!“

Engelid’s Antlitz hatte bei diesen kalt-freundlichen Erklärungen einen sorgenvollen Ausdruck angenommen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_374.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2023)