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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

„Ich trotze nicht darauf, ich tröste mich damit. Denn den Gedanken, Sie wirklich zu verlieren, kann ich nicht fassen. Es wäre wie ein Aufhören meines Lebens. Wer glaubt an das Aufhören seines Herzschlages, an das Stillstehen seines Athems – Niemand – und wie mein Herz nicht aufhören kann, zu dem Ihren hinüber zu schlagen, wird auch das Ihre …“

Regine wandte sich rasch. Es war etwas in ihr, was sie zur Flucht vor Leonhard’s Worten, zur Flucht vor sich selber trieb. Sie wollte fest bleiben, und wozu dann noch seine Worte, die so dämonisch klar und überzeugend in ihr nachzitterten, und die doch nur Trug und Täuschung waren, anhören? Es war nicht gut, noch länger den groß und mit einem eigenthümlichen Leuchten auf sie gerichteten Blicken Stand zu halten – Blicken voll eines verrätherischen Zaubers, als ob sie von Seelengröße und Geistesadel nur so zu glänzen und zu flammen verständen. Noch hätte sie gern, ehe sie schied, sich dem armen Oheim da vor ihr an die Brust geworfen, zum Lebewohl – aber dann wäre sie gewiß nicht Herrin über sich selber geblieben; sie wäre in krampfhaftes Schluchzen ausgebrochen, und davon sollte Er nicht Zeuge sein. Weinen sollte Er sie nicht sehen; Er nicht, nein – eisern wollte sie ihm erscheinen. O, sie haßte ihn so, haßte ihn um so mehr jetzt aus dem tiefsten Grunde des Herzens, seit er von diesem Herzen und von seinem ewigen Gebundensein ihr mit kühlster Ruhe Dinge gesagt, die so empörend wahr waren, daß sie ganz unmöglich sie sich sagen lassen konnte! Und so ging sie stolz aufgerichtet rasch davon.

„Ihr entsetzlichen Menschen!“ stöhnte, als sich die Thür hinter ihr geschlossen, der Baron auf. „Welche Scenen sind dies! Ihr bringt mich um damit. Ihr alle seid verschworen mich umzubringen.“

Leonhard hörte nicht auf ihn. Er stand wie versteinert, den Boden anstarrend.

„Gehen Sie doch – folgen Sie ihr nach, Klingholt – sprechen Sie zu ihr! Sie haben ihr ja kein einziges Wort zu Ihrer Vertheidigung gesagt – gehen Sie und schwören Sie ihr, daß …“

„Was soll ich schwören?“ fiel ihm Leonhard in’s Wort. „Daß ich ein ehrlicher Mensch bin und unfähig, Liebe zu lügen, wo ich sie nicht empfinde? Daß ich nicht um alle Schätze der Welt mein Herz verkaufe? – Nein, Baron, das werde ich ihr nicht schwören – das nicht, und machte es mich für immer unselig, ich werde solch ein Wort nicht über meine Lippen bringen … lassen Sie mich gehen, lassen Sie mich frei nur eine halbe Stunde! Vielleicht gelingt es mir, zur Besinnung und Fassung über dies Alles zu kommen!“

Und auch er stürmte hinaus und ließ den alten Herrn in seiner Hülflosigkeit allein.



14.

Der Abreise von Fräulein Regine stand diesmal nichts im Wege. Das feindliche Lager war ja zwiespältig geworden; es schien auf jedes Vorgehen verzichtet zu haben. Andreas war nach Leonhard’s Auftrag um Damian beschäftigt, und so ging der andere Diener statt seiner und kam nach einer Weile zurück, um ihren Koffer zu nehmen und zum Wagen zu bringen. Regine folgte ihm; mit heftigem Herzpochen schritt sie die Treppenstufen in diesem für sie nun auch so verhängnißvoll gewordenen Hause hinab und trat in die graue nebelerfüllte Luft, die trüb und beengend über dem Hofe und den Thürmen und Dächern von Dortenbach lag.

Sich enger in ihren Mantel hüllend und dicht den blauen Schleier vorziehend, bestieg sie den Wagen, der wenige Augenblicke darauf über die längst wieder friedlich niedergesunkenen Bohlen der Zugbrücke rollte. Und dann ging es raschen Trabes unter den feuchten Wipfeln einer Ulmenallee über eine chauffirte Straße dahin – raschen Trabes auch noch auf den ungepflasterten Wegen zwischen Ackerfeldern und durch kleine Gehölze weiter und weiter. Regine war zu tief in ihre Gedanken versunken, um dieser Wege irgend zu achten.

Endlich, als der Wagen langsamer sich durch den Wald bewegte, schlug sie den Schleier zurück und blickte um sich. Es waren offenbar weithin sich dehnende Waldgründe, in denen sie sich befand. Leiser grauer Nebel wallte in einzelnen Flockenmassen unter den hohen Baumstämmen dahin, langsam in eine Thalsenkung zur Linken hinabziehend; eine rege Phantasie hätte sich Gestalten daraus bilden können, langbärtige graue Mantelträger, im Zuge schweigsam dahinwallend, Priester einer Waldgottheit, Druiden, zu ihrem innersten Waldheiligthum ziehend. Regine war zu erschüttert, zu schmerzlich und stürmisch bewegt, um sich Gebilden ihrer Phantasie hinzugeben, aber dennoch wirkte der eigenthümliche Zauber der Stille unter dem grünen Laubgewölbe uralter Stämme auf ihr Gemüth. Der Eindruck einsamster Weltentrücktheit, in feuchter schlummeriger Luft, kam ihr wie etwas Wohlthätiges, das jeden, auch den schmerzlichsten Herzschlag in der Menschenbrust abzudämpfen, zu beschwichtigen vermag, wenn man nur nie wieder aus solchem Wald-Bering hinaustritt und in seinem Banne verweilt.

Das war nun freilich gerade das Entgegengesetzte von dem Drang, der sie fort und in die Welt zurücktrieb. Sie war auch nicht mehr möglich, solche Romantik, solch ein Leben einer Genoveva, der ja auch im tiefsten Walde der Schmerz und die Sehnsucht nicht vergangen. Sie hätte obendrein auch die souveraine Herrin solch eines Waldgebietes sein müssen, um darin nicht täglich gestört zu werden. Die Herrin hätte sie nun allerdings sein können – gewiß gehörte der Wald noch zu Dortenbach; es hätte ihr dann nur ein Wort gekostet und …

Regine mußte plötzlich an die Wirkung solch eines Wortes denken. Wenn sie jetzt, wo sie mit Leonhard für immer gebrochen, die Erbin von Dortenbach wurde, welche Strafe war dies für ihn, wie rächte sie sich dann an seiner Falschheit! Verführerischer Gedanke! Jetzt, ja jetzt war es Zeit, seine abscheuliche Hinterlist so grausam zu bestrafen und ihn fühlen zu lassen, was er verloren; denn dann würde er es fühlen, was er in dieser Stunde vielleicht noch leichten Herzens ertrug. Aber das war ein thörichter Gedanke. Sie konnte ja nicht, durfte nicht, wollte nicht sich selber untreu werden. Doch war der Gedanke nicht so leicht gescheucht. Wie zerstreut fragte sie den Kutscher:

„Gehören diese Wälder noch zu Dortenbach?“

Der Mann antwortete ihr, ohne den Kopf zu wenden, mit einem lakonischen: „Ja!“

Aber war sie denn bei der Herreise durch einen so ausgedehnten Wald gekommen? Sie entsann sich dessen nicht. Es war Abend gewesen; sie hatte darauf auch damals nicht geachtet. Aber so geschüttelt war sie damals nicht worden, wie jetzt, wo die Pferde langsamer gingen und Mühe zu haben schienen, in den tief ausgefahrenen, offenbar selten benutzten Geleisen weiter zu kommen.

Eine Weile noch schwieg sie, indem sie um sich blickte und in ihrer Erinnerung suchte. Aber nichts kam, worauf ihr Auge schon einmal, so viel ihr bewußt war, geweilt hatte. Der Wald um sie her wurde dichter und dichter; der Wagen schwankte weiter, von einer Seite auf die andere.

Erschrocken rief sie endlich den Kutscher an:

„Dies ist unmöglich der Weg zur Eisenbahnstation. Wohin fahren Sie denn, wo sind wir?“

„Bald wieder auf dem richtigen Wege,“ lautete die Antwort; „ich habe mich ein wenig in diesen Waldwegen geirrt, aber ich kenne die Richtung, und wir werden bald wieder auf dem Fahrdamm zur Station sein.“

„Verirrt? So halten Sie doch! Sie gerathen nur immer weiter in die Irre,“ rief sie aufspringend. Ein ganz unsäglicher Schrecken hatte sie erfaßt bei der Vorstellung, tief im Walde mit dem Menschen allein zu sein, und noch mehr bei dem eigenthümlichen Klange der Stimme des Kutschers, der fortfuhr, ihr den Rücken zuzuwenden, dessen Stimme ihr aber, obwohl sie verstellt klang, doch nur zu bekannt vorkam.

Er peitschte[WS 1] auf die Pferde und fuhr weiter.

„Halten Sie – wenden Sie augenblicklich!“ rief Regine in ihrer Angst, „oder ich springe aus dem Wagen.“

Der Kutscher wandte ihr jetzt halb sein Gesicht zu – er hatte es bisher durch den aufgeschlagenen Kragen seines Mantels verborgen gehalten. Regine sah, daß sie sich nicht getäuscht, daß es wirklich und in der That Sergius von Sander war, der da vor ihr auf dem Bocke saß und die Pferde in diese Waldwildniß hinein gelenkt hatte. Er war geflissentlich mit einer wahren Schurkenabsicht in die Irre gefahren. Das schoß ihr durch’s Hirn, während er sagte:

„Springen Sie nicht aus dem Wagen, Fräulein Regine! Sie allein würden sich aus diesen Waldgründen nie wieder herausfinden. Vertrauen Sie sich ruhig meiner Führung an, theure Cousine, oder vielmehr, fahren Sie fort, mich unter Ihren Schutz

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: peitsche
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_384.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)