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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Esthländer zu verzeichnen: von den Professoren Dorpats und den Mitgliedern der Petersburger Akademie stammt ein großer Theil aus esthnischem Gebiete, und damit auch die Kühnheit der Esthen sich in den Deutschen ihres Landes widerspiegle, gehören Esthländer zu den besten und umsichtigsten Admiralen der russischen Flotte. Ferner finden wir sie im Staatsdienste und unter den höheren Officieren zahlreich vertreten, und die Eisenbahnen Südrußlands sind zu großem Theile von esthländischen Baronen in’s Leben gerufen und gebaut worden. Endlich haben Revalenser die ersten deutschen Buchhandlungen in Petersburg und Moskau gegründet, und das älteste Kaufmannshaus Rußlands blüht noch heute in Reval.

Zu Rußland gehört dieses Land, doch russisch ist es nicht. Und der Staat sollte des Glückes sich freuen, daß ein Finnland, daß die Ostseeprovinzen mit ihrer westeuropäischen Cultur, ihrer Gesetzlichkeit und ihrer wirthschaftlichen Leistungsfähigkeit in ihm ihren Schutz und Bestand suchen. Es ist nicht blos Rußlands Pflicht, ihre Eigenart zu schonen, sondern auch sein eigenstes Interesse.

Nowgorod war ein blühendes Gemeinwesen und lebendiges Zeugniß dafür, daß auch der Russe in freier Verfassung gedeihen und Tüchtiges leisten könne. Da kam Moskau, legte die Stadt in Asche und füllte den Fluß mit den Leichen erschlagener Russen, Was ist Nowgorod seither unter Moskaus Herrschaft geworden?

Möglich, daß man auch dereinst von einer „zertretenen Blüthe Liv-, Esth- und Kurlands“ sprechen wird. Jungesthen und Jungletten steuern – in selbstmörderischer Verblendung – der moskowitischen Herrschaft entgegen. Und wie einst die Großfürsten von Moskau sich nicht blos ihren Titel, sondern auch ihre Staatskunst aus der goldenen Horde der Tataren holten, so ist das Ideal der heutigen Leiter Rußlands am Bosporus und in Geok Tepe gewachsen, und wie ihre Vorgänger um die Gunst der Kirche buhlten, haben auch sie ein Bündniß mit dem Fanatismus der schwarzen Geistlichkeit geschlossen und den Phrasenrausch einiger Journalisten in Dienst genommen, um eine Tyrannis der Günstlinge über den Staat, die Völker und den Kaiser selbst zu üben.

Möglich, daß dereinst eine solche Herrschaft diese Culturoase an der Ostsee vernichten wird! Doch diese ist vom Schicksal nie verzärtelt worden, und der zähe Charakter, den sie in ihrem Entstehen und Wachsen bewiesen hat, der Fleiß ihrer Arbeit, die Tüchtigkeit ihrer Leistungen, die Treue ihrer Sitte – das sind starke Bundesgenossen gegen das moderne Mongolenthum.

E. Heinrich.

Blätter und Blüthen.

Sommerfrischler und Touristen. Das sehnsüchtige Bedürfniß, in der freien Natur seinen durch das städtische Treiben ermüdeten Geist von Neuem zu beleben, welches seit Winckelmann und Goethe den modernen Culturmenschen erfüllt, ist heutzutage leichter denn jemals zu befriedigen. Die Eisenbahn führt alljährlich Hunderttausende nach jenem Lande,

„… wo die Citronen blüh’n,
Im dunklen Laub die Goldorangen glüh’n,
Die Myrthe still und hoch der Lorbeer steht …“

und Millionen von Städtern, nicht nur Einzelnen, wie ehedem, erweist Gott heutzutage „rechte Gunst“, um mit Eichendorff zu reden, schickt sie in die weite Welt und zeigt ihnen seine Wunder „in Feld und Wald“. Mit jedem Sommer entwickelt sich eine steigende Volkswanderung von der Stadt auf’s Land, von der Ebene in die Berge oder an die See zur Sommerfrische. Allgemein ist namentlich in den größeren Städten das Bedürfniß nach zeitweiliger Erholung in Gottes freier Natur. Der Eine geht nicht weit von Hause weg; den Anderen treibt es in entlegene Fernen, und wem es an Zeit und Geld mangelt, der begnügt sich mit sonntäglichen Ausflügen in die Umgegend seines Wohnortes. Doch wie immer diese Schaaren benannt werden mögen: Sommerfrischler, Vergnügungszügler, Touristen, Badereisende, Ausflügler, Bergfexen u. dergl. m. – es ist dasselbe Gefühl, welches sie erfüllt, dasselbe Bedürfniß, welches sie treibt, dasselbe Ziel, welches sie lockt.

Seit Rousseau, Goethe und den Romantikern haben wir das, was Alexander von Humboldt das Naturgefühl genannt hat. Im Anschauen der Natur bewundern wir nicht nur die Majestät ihres Schöpfers, wie der lobsingende Psalmist, schätzen wir nicht nur die Annehmlichkeiten und Behaglichkeiten des Landlebens, wie die Zeitgenossen des Horaz, preisen wir nicht nur das Zweckmäßige und Reichliche oder das Idyllische und Liebliche, wie die kleinen Poeten vor unserer classischen Literaturepoche, sondern wir erfreuen uns der Natur um ihrer selbst Willen.

Was die arbeitsame Menschheit des neunzehnten Jahrhunderts auf’s Land hinaustreibt, ist nun freilich das Naturgefühl nicht allein. Hier haben noch andere Verhältnisse wirksam eingegriffen, vor Allem das Anwachsen der Städte, die mangelhaften Wohnungen in den engen, dichtbevölkerten Großstädten, das Bedürfniß nach Ruhe und Erholung, nach körperlicher Uebung und Abhärtung, nach Luftveränderung, Badegelegenheit etc. neuerdings mit der steigenden Entwickelung der Naturwissenschaften auch das Interesse an wissenschaftlichen Forschungen.

War so mit dem Naturgefühl in dem modernen Städter das Bedürfniß nach der freien Natur vorhanden, so hatten inzwischen die neuen Verkehrsmittel dafür gesorgt, daß der Neigung und dem Bedürfniß auch entsprochen werden konnte, und nachdem diese Vorbedingungen für das Gedeihen des Sommerfrischler- und Touristenwesens gegeben waren, gewann alsbald die neue Erscheinung zusehends an Umfang und Bedeutung. Wie sie zuerst am Rhein auftauchte, wo reisende Engländer über Belgien den Weg nach der Schweiz und Italien nahmen, wie der Rhein gegen Ende der zwanziger Jahre durch Eröffnung einer regelmäßigem Dampfschifffahrt von Basel bis zur See rasch belebt und zum Zielpunkt aller Lustreisenden erhoben wurde, wie inzwischen aus diesen ersten Anfängen in steter Steigerung das moderne Sommerfrischler- und Touristenthum erstand, das gehört, obschon vergangen, der Gegenwart an, weil wir es Alle miterlebten. Heute vollziehen sich mit jedem Frühling und Sommer Einzel- und Massenwanderungen, wie sie keine frühere Zeit gekannt hat.

Da sind zunächst die Sommerfrischler; sie lassen sich mit Kind und Kegel am liebsten in der nächsten Nähe ihres Wintersitzes nieder, in Berlin spreeabwärts und spreeaufwärts bis in die märkische Schweiz hinein, in Wien den ganzen Wiener Wald entlang, in München isaraufwärts und am Starnbergersee, in Dresden bis zur sächsischen Schweiz. Die Königsberger, Danziger, Stettiner, Hamburger etc. gehen an’s Meer oder auf die Inseln, der Binnenländer an den Strom oder See dem Gebirge entgegen.

Im Harz und in Thüringen, im Taunus und am Mittelrhein, in den Vogesen und im Schwarzwald, in der Schweiz, am Bodensee, in den oberbaierischen Bergen und an ihren Seen, in der märkischen, fränkischen, sächsischen, böhmischen, schwäbischen und baierischen Schweiz sind Hunderte von Dörfern und Märkten zu Sommerfrischen geworden und Hunderte auf dem Wege begriffen, es zu werden. Dasselbe sehen wir auf Rügen, Norderney, Helgoland, auf den holsteinischen Inseln oder an den Küsten der Ostsee und Nordsee. Wo Wald, Wasser und Berge sind, da finden sich jetzt gewiß auch Sommerfrischler aus der Stadt ein.

Nicht so der Tourist; er unterscheidet sich von dem Sommerfrischler wie der Unternehmer einer Landpartie vom bloßen Spazierganger; er hat einen Plan und ein Ziel; er macht eine wirkliche Rundreise; er wandert zu Fuß und sucht nicht in der Ruhe, sondern in anstrengenden Märschen Erholung und Anregung; er ist weder alt noch krank, höchstens Hypochonder; er ist ein Mann der Arbeit, und die Berge sind seine Welt, vor Allem die Alpen, aber auch heimische Mittelgebirge. Bewußt und strebend, wie er ist, vereint er sich mit seines Gleichen, und ihm ist es zu danken, wenn die neue Erscheinung, welche er repräsentirt, ihre Tendenz vertieft, ihre Kraft durch Bildung von Vereinen[1] systematisch nutzbar gemacht hat.

Alle diese Vereine haben sich die Aufgabe gestellt, die Kenntniß der Alpen, Vogesen etc. zu erweitern und zu verbreiten, sowie ihre Bereisung zu erleichtern, und zur Erfüllung ihrer Aufgabe veröffentlichen sie in ihren Organen, Monatsschriften und Jahrbüchern Mittheilungen über Theorie und Praxis des Bergfahrtenwesens, oft von geologischem, meteorologischem, anthropologischem, mineralogischem und zoologischem Werth; sie legen ferner neue Wege an oder markiren solche durch Weiser oder Zeichen; sie regeln das Führerwesen, veranstalten gesellige Zusammenkünfte und gemeinsame Ausflüge und erweitern zugleich fort und fort ihre Thätigkeit, welche eine gemeinnützige ist, da sie jedem Bergfreund zu Gute kommt. Wer sich über diese Vereine unterrichten will, findet in dem jüngst erschienenen „Handbuch des alpinen Sports“ von Julius Meurer (Wien, Hartleben’s Verlag) einem allerliebst ausgestatteten eleganten Handbuch, erschöpfende Auskunft.

Erst eine spätere Zeit wird den ganzen Umfang dieser neuen socialen Erscheinung zu erkennen vermögen. Nur nach drei Richtungen hin seien schon jetzt ihre Einwirkungen angedeutet.

Vom Berge droben schaut der Städter in’s Thal, vom Odilienberge etwa in’s Rheinthal, über die weite Ebene mit ihren Hunderten von Dörfern hinweg. Er erkennt in dem Thale das einstige Becken des Rheinsees, wie er vor dem Durchbruche des Stromes bei Bingen vorhanden gewesen; er erblickt in der Heidenmauer die räthselvollen Spuren der Ureinwohner der Gegend; er tritt Angesichts der gewaltigen Burgruinen den Kämpfen vergangener Zeiten näher, und dabei fallen ihm die korn- und weinbepflanzten Abhänge, die Fabriken in der Ebene, das Münster am Saume des Horizonts und tausend andere Dinge in’s Auge, welche anregend wirken und oft zu neuem Streben und schaffen den ersten Anstoß geben. Da spiegeln sich Welten wieder in dem Individuum wie in dem Thautropfen der Sonne, und wenn dann dieser Mann auf der Rückkehr in sein Heim hier noch eine fremde Ausstellung besucht, dort die unvergleichlichen Specialwerkstätten, Museen oder Bibliotheken besichtigt, dann wird sich in ihm – bewußt oder unbewußt – der tiefgehende Einfluß

  1. Dem „Deutschen und Oesterreichischen Alpenverein“ gehören 10,000, dem „Vogesenclub“ 2500, dem „Sächsischen Erzgebirgsverein“ und dem „Gebirgsverein für die sächsisch-böhmische Schweiz“ je 1500, dem „Rhönclub“ 1800, dem „Thüringer Waldverein“ 1300, dem „Lausitzer Gebirgsverein“ 1200, dem „Voigtländischen Gebirgsverein“ 900, dem „Taunusclub“ 800, dem „Schwarzwaldverein“ 600 und dem „Verein der Spessartfreunde“ 500 Mitglieder an, und fast noch mehr Touristen zählen die ähnlichen Vereine in Oesterreich-Ungarn.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_403.jpg&oldid=- (Version vom 16.3.2023)