Seite:Die Gartenlaube (1882) 428.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Eine deutsche Volksakademie.


Des Menschen edelste Beschäftigung ist der Mensch.     
Lessing. 

Wenn noch vor drei Jahrzehnten dem Ansspruche des berühmten englischen Geschichtsschreibers Buckle ein Körnchen Wahrheit zugeschrieben werden konnte: „Deutschland habe solche Mühe fortzuschreiten, weil dort die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten tiefer sei, als in irgend einem anderen Lande,“ so hat dieser Ausspruch längst jede Berechtigung verloren. Die Kluft zwischen den höheren und niederen Schichten der Gesellschaft, zwischen Gebildeten und Ungebildeten ist in Deutschland, namentlich seit den letzten Kriegen durch die Anerkennung der politischen Gleichberechtigung und die Ausdehnung der Selbstverwaltung mehr und mehr überbrückt worden, und es dürfte in der That der Zeitpunkt nicht mehr ferne sein, wo alle Classen der Nation über einen nahezu gleichen Fonds allgemeiner Bildung verfügen werden.

F. Wittig. Berl.

G Hever & Kirmse. X. A.
Das Hussitenfest in Bernau: 0Ehrenjungfrauen.
Originalzeichnung von F. Wittig.

Wesentlich hat dazu beigetragen der Umstand, daß die Männer der Wissenschaft sich entschlossen, aus ihrer zünftigen Abgeschlossenheit herauszutreten und die reifen Früchte ihres Studiums und ihrer Erfahrung in gemeinverständlicher, leicht faßlicher Form allem Volke zugänglich zu machen. Kein Land der Welt verfügt über eine der Zahl und der Bedeutung ihrer Mitglieder nach so reiche Aristokratie des Geistes wie Deutschland, und seit Jahrzehnten ist diese Aristokratie bemüht, an die Spitze der demokratischen Bewegung zu treten, welche, in Preußen schon während der großen Reformen der Stein, Hardenberg, Scharnhorst, Humboldt begonnen und welche mit noch größerem Erfolge die Nation 1848 ergriffen hat, um über die Jahre 1866 und 1870 hinaus in immer weiteren Wellenschlägen allen Gesellschaftsschichten die reichen Früchte des Menschengeistes aus allen Gebieten des Forschens und Wissens zu erschließen. Und wenn die deutschen Hochschulen bisher als die hauptsächlichsten Pflanzstätten der höchsten geistigen Bildung angesehen werden mußten, so sind diesen Hochschulen seit einigen Jahrzehnten in den deutschen Bildungsvereinen nahezu ebenbürtige Institute an die Seite getreten, deren Bedeutung und Tragweite nach gewissen Seiten hin sogar noch jene Hochschulen übertrifft. Nicht Fürstengunst hat diese Bildungsvereine geschaffen, die bestimmt sind, auch dem kleinen Manne, dem Handwerker und Arbeiter, den reichen Schatz der Wissenschaft zu erschließen und ihn die befreiende und erlösende Macht wahrer Humanität und Bildung kennen zu lehren, nein, der freien Selbstthätigkeit Einzelner verdanken die deutschen Bildungsvereine, Volksakademien im edelsten Sinne des Wortes, ihren Ursprung und ihr Erblühen.

Unter diesen Bildungsvereinen nimmt aber unstreitig der große Berliner Handwerkerverein den ersten Rang ein, und der Ruf seiner segensreichen Wirksamkeit, die über nahezu eine Million von Handwerkern und Arbeitern im Laufe der Jahre sich erstreckt hat, hallt – wir können dies ohne Uebertreibung sagen – in beiden Hemisphären wieder. Uns liegt die Denkschrift des Berliner Handwerkervereins aus dem Jahre 1867 vor, die für die große Weltausstellung in Paris bestimmt war und ein vollkommenes Bild aller Bestrebungen und aller Einrichtungen des Vereins gewährt.

Auf Grund dieser Denkschrift, welche von einem großen allegorischen Tableau des berühmten Geschichtsmalers Professor Plockhorst und von vier großen architektonischen Zeichnungen der Baumeister Kolcher und Lauenburg, das Vereinshaus darstellend, begleitet war, wurde der große Berliner Handwerkerverein als das vorzüglichste Bildungsinstitut für Erwachsene, welches in Europa besteht, von den competentesten Sachverständigen anerkannt und durch die große goldene Medaille geehrt. Die silberne Werkmeistermedaille der Pariser Weltausstellung wurde dem Wiederbegründer des Berliner Handwerkervereins, dem hochverehrten Präsidenten Lette, zu Theil. Auch auf den späteren Weltausstellungen hat sich der Berliner Handwerkerverein die ehrendste und allseitigste Anerkennung errungen.

In Wien, Pest, Florenz, Tiflis, Barcelona, Cincinnati hat man Handwerkervereine nach dem Muster des Berliner Vereins gegründet, und aus allen Ländern ist der Vorstand des Berliner Handwerkervereins um Rath und Unterstützung gebeten worden, um Bildungsinstitute nach seinem bewährten Vorbilde zu stiften.

Es war in den ersten Jahren der so hoffnungsreich begrüßten Regierung Friedrich Wilhelm’s des Vierten, als der Berliner Handwerkerverein zum ersten Male in der Johannesstraße Nr. 4 seine Pforten öffnete, um unter den Handwerkern und Arbeitern Bildung und Gesittung zu verbreiten. Schriftsteller und Gelehrte, zum Theile Männer, welche sich später einen berühmten Namen erworben haben, schlossen sich dem Vereine an und wirkten in demselben durch gediegene Vorträge, wie durch systematischen Unterricht.

„Mit frischem, gesundem Sinne gaben sich die jungen Handwerker,“ erzählt Streckfuß in seiner Schrift „Fünfhundert Jahre Berliner Geschichte“, „dem Vereine hin. Hatten sie früher ihre freien Abende trinkend und singend in den Kneipen zugebracht, so besuchten sie jetzt den Handwerkerverein, in dem sie neben der Belehrung eine veredelnde Geselligkeit fanden, durch die sie im freundschaftlichen Umgange mit ihren wissenschaftlich gebildeten Lehrern zu einer höheren Bildungsstufe erhoben wurden.“

Das Jahr 1848, welches dem Vereinswesen in Deutschland einen großen Aufschwung gab, trug selbstverständlich auch in den jungen Handwerkerverein eine größere Lebhaftigkeit hinein. Die zahlreichen Versammlungen, das Clubwesen jener sturmbewegten Tage, die soeben erst erwachte fieberhafte Theilnahme des Volkes an den politischen Fragen blieben nicht ohne Rückwirkung auf das innere Leben des Handwerkervereins, dessen Mitglieder sogar ein besonderes Corps zur neugeschaffenen Bürgerwehr stellten. Aber wenn auch in den Debatten ein lebhafterer Ton angeschlagen wurde – nicht einen Zoll breit wurde der Verein dem eigenen Gesetze ungetreu, welches die Verfolgung kirchlicher und politischer Zwecke untersagte. Auch als die Wogen der Zeit am höchsten gingen, wurden, wie ein uns vorliegender Bericht versichert, die allbewegenden Fragen der Zeit von der Lehrerschaft mit der Ruhe ernster Männer behandelt, die nicht Clubredner, sondern Lehrer des Volkes zu sein erstreben.

Diese Ruhe und Besonnenheit, welche der Verein und seine Leiter in den Tagen der Revolution bewahrten, schützte ihn nicht davor, von der im November hereinbrechenden Reaction, welche mit scheelen Augen sein Bildungsstreben verfolgte, in Acht und Bann gethan zu werden. Im Jahre 1850 diente eine geringfügige

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 428. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_428.jpg&oldid=- (Version vom 20.3.2023)