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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

in dieser Beziehung aber muß man wieder die Erfahrung machen, daß Vorurtheile leichter geschaffen, als beseitigt werden.

Allerdings haben ja die gegen die Zigeuner gehegten Vorurtheile auch heute noch einen Schatten von Berechtigung, insofern als der Zigeuner von heute noch völlig dem des fünfzehnten Jahrhunderts gleicht, wenn er nicht etwa schon durch Culturländer gewandert und von der Civilisation berührt worden ist. Ueberall zu Hause, wo sie die Bedingungen für eine kurze Rast, für ihre anspruchslose Existenz fanden, aber vor der Niederlassung, vor der Begründung eines festen Heims zurückschreckend und daher stets auf der Wanderschaft, ihren Empfindungen in Tönen Ausdruck gebend, ohne andere Habe, als die der kleine Wagen birgt, vor den der Familienvater sich, in Ermangelung eines Pferdes, selbst spannt, ohne andere Kleidung und Kostbarkeiten, als die jeder tragen kann, bald sorglos und heiter, bald melancholisch und ernst, stets ruhig und gemessen und meist nur durch den Zauber ihres Blickes wirkend, unempfindlich gegen die Unbill des Wetters, gegen den heftigsten Temperaturwechsel: so werden uns diese fahrenden Leute, als sie zuerst europäischen Boden betraten, in alten Urkunden geschildert – so zeigen sie sich uns noch heute.

Die Voraussetzungen sind also die gleichen geblieben; der Unterschied in der Beurtheilung liegt nur darin, daß das im Aberglauben befangene Mittelalter die ihm entsprechenden Eigenschaften und Charakterzüge in’s Auge faßte und die Zigeuner wegen der von ihnen betriebenen Wahrsagekunst zu einem Volke von Zauberern stempelte, während die kühle, verstandesmäßig denkende Gegenwart sie als Diebe, Heuchler, Lügner und Betrüger betrachtet, behandelt und – schließlich dazu macht.

Das geheimnißvolle Dunkel aber, das über der Herkunft dieses ohne Gleichen dastehenden, im Grunde harmlosen Wandervölkchens ruht, umgiebt es mit einem Nimbus, der ja in jedem Falle dem Gegenstande, dem er anhaftet, besonderen Reiz verleiht. Wohl hat die moderne Sprachwissenschaft auch hier, wie in so vielen anderen Fällen, Pionnierdienste geleistet und mit Sicherheit erwiesen, daß die Sprachen aller Zigeuner der verschiedensten Länder der Erde – und man unterscheidet in Europa allein dreizehn Mundarten – aus demselben Boden erwachsen, in dem Aufbau alle gleich und sehr nahe mit dem Indischen verwandt sind, woraus sich weiter schließen läßt, daß die Zigeuner ein arischer Stamm sind, der seinen Ursprung in Indien hat; wohl hat die Völkerkunde in dem Stamme der Tschangar, die im Pendschab und im Sindh leben, genau dasselbe Wanderleben führen, wie die europäischen Zigeuner, auch denselben physischen Typus aufweisen, ihre nächsten Verwandten ermittelt, aber noch ruht ein undurchdringliches Dunkel über der Zeit, wann, über den Ursachen, in Folge deren einzelne Familien und Sippen den heimischen Boden verließen. Die Zigeuner selbst aber haben keine historischen Erinnerungen, keine nationalen Dichtungen aus der fernen östlichen Heimath mitgebracht, nichts, was einen zweifellosen Anhalt für den Historiker böte. Wie bei allen ihren indischen Verwandten ist der Sinn für die Geschichte bei ihnen nie entwickelt worden; die ihrem Wesen einzig und allein entsprechende natürliche Ausdrucksweise ist zu allen Zeiten die Musik gewesen, die ja unter allen Umständen am ehesten im Stande ist, dem instinctiven Naturgefühl Ausdruck zu verleihen, und wer, der den Zigeuner auf seiner Geige die nationalen Melodien spielen und phantasiren hörte, hätte nicht die Macht seiner Beredsamkeit, die Tiefe seiner Empfindungen kennen gelernt und bewundert!

Daß die Zigeuner in Indien zur Kaste der Parias gehörten, deren Berührung, ja deren Anblick die Angehörigen der höheren Kasten für verunreinigend hielten, und die, von den letzteren nicht als Menschen anerkannt, wie unreine Thiere verfolgt wurden, ergiebt sich weiter aus der Vergleichung mit ihren nächsten indischen Verwandten, die sich immer noch in derselben Lage befinden.

Als Ursache der Auswanderung von Zigeunerstämmen kann also das zu irgend einer Zeit auch im Geknechtetsten einmal erwachende Bewußtsein verletzter Menschenwürde angesehen werden. Die Culturgeschichte lehrt uns ferner, daß indische Wanderstämme von den kriegführenden Völkern und in moderner Zeit noch von den Engländern benutzt worden sind, die Gebiete der Gegner zu verwüsten, das Vernichtungswerk der Kriegführenden zu vollenden, und dieser Umstand giebt Veranlassung zu der Vermuthung, daß die Zigeuner zuerst im Gefolge solcher Kriegsvölker und Helden, hauptsächlich der muhammedanischen, dann später Dschingis-Khan’s und der Türken ihre Heimath verlassen und auf diese Weise wohl schon zur Zeit der Kreuzzüge nach Europa gekommen seien; ihre Sprache deutet ebenfalls auf jene Zeit hin, in der das Sanskrit in Indien nicht mehr lebende Sprache, sondern den Dialekten gewichen war.

So entzieht sich selbst das erste Auftreten der Zigeuner in Europa der Kunde der Menschheit und wird wohl kaum jemals sicher zu ermitteln sein; denn da dieses Volk sich nie in die Politik, in die inneren Angelegenheiten der Staaten mischte, in denen seine Sippen sich vorübergehend niederließen, da die Zigeuner nie eine Rolle in der politischen Geschichte Europas spielten, so hatten die Chronisten keine Veranlassung, der Fremdlinge Erwähnung zu thun. Die ersten Nachrichten über sie datiren daher aus verhältnißmäßig später, aus einer Zeit, die unzweifelhaft weit jünger als die ihres thatsächlichen ersten Auftretens ist; da war denn natürlich nichts mehr über ihr frühestes Erscheinen zu ermitteln.

Wenn man von den Athinganoi absieht, die unter Kaiser Nicephoros um 810 im byzantinischen Reiche erschienen, traten die Zigeuner nach den historischen Urkunden zuerst im Anfang des vierzehnten Jahrhunderts auf und verbreiteten sich während des fünfzehnten und sechszehnten über ganz Europa, in Ungarn und Bulgarien aber sind sie offenbar schon im zwölften Jahrhundert aufgetaucht, und zwar wird ihrer von vornherein als vorzüglicher Musiker Erwähnung gethan, in welcher Eigenschaft sie später bei Hoffesten und anderen feierlichen Gelegenheiten stets Dienste leisten mußten. Ungarn ist überhaupt von jeher ihr Lieblingsaufenthalt gewesen, und dort haben sie auch am meisten und besten ihre natürliche musikalische Begabung entfalten können, weil die Ungarn ihnen volle Gastfreiheit gewährten.

Der Dank, den die Zigeuner den Ungarn dafür zollten, war die Schöpfung der ungarischen Musik, die im Grunde nur zigeunerischen Ursprungs ist und den Typus der Zigeunermusik durchweg aufweist. In allen übrigen Ländern, mit Ausnahme der maurischen Reiche, wurden die dunkelfarbigen fremdländischen Wanderer jedoch kaum anders behandelt, als die Parias Indiens, und die Gesetzsammlungen aller übrigen Staaten haben zahlreiche Verordnungen der schrecklichsten Art gegen die armen Fremdlinge aufzuweisen.

Ueber das erste Erscheinen der Zigeuner an gewissen Orten werden uns ganz sonderbare Mittheilungen gemacht; es heißt darüber in alten Schriften, es seien im ersten Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts fahrende Leute nach Deutschland, Frankreich und Italien gekommen, die sich als ägyptische Büßer ausgegeben hätten und deren Beschreibung genau auf die Zigeuner paßt. So seien am 17. August 1427 zwölf Fürsten, aus einem Grafen, einem Herzog und zehn Rittern bestehend und in phantastische Tracht gekleidet, vor Paris erschienen und hätten sich als Aegypter und zwar als Nachkommen Derer bezeichnet, die der heiligen Familie bei ihrer Flucht nach Aegypten und dem Aufenthalte daselbst jede Unterstützung verweigert hatten. Sie seien nun deshalb von den Saracenen vertrieben worden und hätten vom Papst unter der Bedingung Absolution erhalten, daß sie sieben Jahre in allen Landen umherirren sollten, ohne inzwischen in Betten oder festen Häusern zu schlafen. Der Bischof von Paris duldete diese Fremden, die durch ihre Physiognomien und ihr Aeußeres ganz Paris in Erstaunen und Aufregung versetzten, nicht lange in Chapelle, wo man ihnen Aufenthalt gewährt hatte, sondern vertrieb sie, weil er in ihnen Zauberer und Diebe vermuthete, und excommunicirte sogar alle Diejenigen, die mit diesen fahrenden Rittern in Beziehung getreten waren, sich hatten wahrsagen lassen u. dergl. m.

Die gleiche Fabel finden wir in mehreren alten Urkunden wieder, und das europäische Mittelalter glaubte natürlich, was einige schlaue Zigeuner, die im Verkehr mit den Christen gewitzigt worden waren und den herrschenden religiösen Zeitgeist zu benützen verstanden, über sich und ihre Stammesgenossen verbreiteten. Der Umstand, daß die Zigeuner sich als ägyptische Büßer ausgaben, verlieh ihnen dem Volke gegenüber Ansehen und gewährte ihnen Schutz, lenkte aber gleichzeitig auf sie das Auge des Clerus, der in ihnen Verkörperungen des Antichrist sah, um so mehr, als sie sich von Anfang an mit allen Gattungen von Zauberei befaßten und daraus eine Einnahmequelle machten, die in jener Zeit sehr ergiebig war und den Säckel der Kirchendiener schädigte – und das zog natürlich Verfolgungen nach sich.

Die Annahme, daß die Zigeuner ägyptischen Ursprungs seien, erhielt sich zum Theil bis in dieses Jahrhundert hinein, und die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_462.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2023)